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Wen die schwarze Göttin ruft

Wen die schwarze Göttin ruft

Titel: Wen die schwarze Göttin ruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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von allem etwas«, hatte Veronika gesagt, als sie durch Urapa gefahren wurden. »Viel Ägypten, etwas Persien, ein Hauch Inka und die Gesichter von Europäern. Griechische Schönheit unter dunkler Haut.«
    Er schüttelte den Gedanken ab und beugte sich über den Knabenkörper. Dombonos Hand glitt zurück und gab die Hüfte frei. Stricker begann vorsichtig, diese Stelle abzutasten.
    »Erzählen Sie weiter, Dombono«, sagte er dabei. »Bei uns nennt man das die Anamnese.«
    »Vor zwei Wintern erschienen die Schmerzen in der Hüfte. Sie waren plötzlich da. Zehn Priester untersuchten ihn, und wir kamen zu dem Ergebnis, daß er sich eine Sehne gezerrt hatte. Sikinophis lag zehn Tage, aber als er aufstand, war der Schmerz noch stärker. Wir gaben ihm die Säfte, die die Schmerzen betäubten, wir untersuchten jeden Teil seines Leibes, ließen ihn zur Ader, aber sein Blut war rot und nicht schwarz …«
    Stricker nickte. Die alte Theorie, daß Blut und Körpersäfte die Träger aller Krankheiten sind, dachte er. Das war bei Hippokrates so, und es blieb dabei bis zu Paracelsus.
    Plötzlich fiel alle Hemmung von ihm ab. Er war frei von der lauernden Angst, dieses medizinische Duell zu verlieren.
    Dombono schien es instinktiv zu spüren und starrte ihn böse an. Er sagt: »Seit drei Monden kann er nur noch hinken! Jeder Schritt ist eine Qual. Wir tragen ihn herum, und er muß auf der rechten Seite schlafen.«
    »Er hat Fieber!« konstatierte Stricker nüchtern.
    »Wir geben ihm Säfte, damit sein Körper nicht glüht.«
    »Ich muß mit ihm sprechen. Übersetzen Sie, Dombono.«
    »Er kann Französisch sprechen«, sagte Sikinika. Ihre harte Stimme vibrierte deutlich. Stricker sah sich um. Sie stand noch immer statuengleich an der goldenen Wand, das hellhäutige Gesicht wie erstarrt. Es muß eine Qual sein, Königin und Göttin zu spielen, dachte er. Sie ist eine Mutter wie alle Mütter dieser Welt, und sie weiß, daß niemand hier ihrem Kind helfen kann. Aber sie muß ein Gott sein, stolz und unerreichbar, eingeschlossen in goldene Wände. Daß auch sie ein Herz hat, nimmt niemand zur Kenntnis.
    »Französisch?« fragte Stricker. »Warum Französisch?«
    »Ist das für die Diagnose wichtig?«
    »Nein.«
    »Dann fragen Sie andere Dinge, Herr Doktor Stricker!«
    Der Kopf des Jungen, verborgen unter dem Gespinst des goldenen Schleiers, bewegte sich ein wenig. Anscheinend konnte er durch den Schleier den Arzt sehen.
    »Knickst du links ein, wenn du gehst?« fragte Stricker.
    »Nein!«
    Nur ein Wort – aber der Klang der Stimme war herzbewegend. Es war das Schluchzen eines Kindes. Ein kleiner Gott weinte still hinter seinem goldenen Schleier.
    »Nur wenn du gehst, tut es weh?« fragte Stricker.
    »Nein, immer. Auch wenn ich liege und mich bewege.«
    »Was ist das für ein Schmerz?«
    »Wie ein Bohren. Es ist, als wenn jemand in meinen Knochen bohrt.«
    Stricker senkte den Kopf und betrachtete die Hüfte des Jungen. Alle Möglichkeiten der Differentialdiagnose schwirrten in seinem Hirn. Es kann ein Osteochondrom sein, dachte er. Oder eine tuberkulöse Osteoarthritis. Möglich ist auch ein Osteoblastom, eine an sich gutartige Knochengeschwulst, oder ein osteoides Osteom, das besonders bei Kindern auftritt. Was es auch ist – mit bloßen Händen und mit ein paar Pillen ist da nichts zu machen. Bei einem Osteom bleibt nur die Exzision oder die Kürettage übrig.
    Stricker drückte noch einmal die linke Hüfte des Jungen und den Oberschenkelknochen. Er tat es bewußt hart; Sikinophis zuckte zusammen und gab einen klagenden Laut von sich. Sofort schnellte Dombono vor und riß Strickers Hände vom Körper des kleinen Gottes.
    »Sie quälen ihn!« schrie er. »Er bekommt Schmerzen!«
    Ein Osteom, dachte Stricker. Es muß ein Osteom sein. Hätte man einen Röntgenapparat, aber was weiß man hier in Urapa von Röntgen! Hier heilen sie mit Säften. Er trat vom Bett zurück und wandte sich an Sikinika. Ihre dunklen Augen starrten ihn an. Das schöne, maskenhafte Gesicht bewegte sich kaum, als sie fragte: »Sie wissen es, Doktor?«
    »Nicht mit Sicherheit. Aber ich glaube, daß es eine gutartige Knochenwucherung ist. Wir nennen sie Osteom.«
    »Dann helfen Sie!«
    Stricker tauchte seine Hände wieder in das Wasserbecken und schüttelte die Feuchtigkeit danach sofort ab. Dombono deckte den Knaben wieder zu.
    »Sie haben den falschen Arzt entführt, Göttin von Urapa«, sagte Stricker langsam. »Die moderne Medizin ist spezialisiert. Hier kann

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