Wen die schwarze Göttin ruft
rundheraus als Quatsch bezeichnet; und einmal bei einer Diskussion unter Medizinern hatte er den uralten Witz des Medizinpapstes Virchow zitiert: »Ich habe Tausende von Menschen aufgeschnitten, aber eine Seele habe ich noch nie gefunden …«
Jetzt erlebte er, wie Sikinophis' Wesen verschwand, wie nur noch sein Körper übrigblieb und wie seine Mutter von dieser Hülle Besitz ergriff.
Hubers Stimme unterbrach energisch die geisterhafte Stille und zerstörte die Ergriffenheit vor dieser Seelenverwandlung. »Wozu dieser Trick!« sagte er fast brutal. »Es ist Ihnen doch klar, daß Sie damit das Nervenzentrum Ihres Sohnes dermaßen belasten, daß ich die Operation hinausschieben muß! Wenn Sie wieder verschwunden sind, werden wir's ja sehen. Bis zur Stunde war der Kreislauf des Jungen hervorragend …«
»Du wolltest mich sprechen?« sagte die kalte Stimme aus Sikinophis' Mund.
»Nicht so! Ich verzichte darauf! Es wird sich die Gelegenheit bieten, Sie wieder leiblich zu sehen.«
»Du Narr! Ich bin immer bei dir! Wenn dich Sikinophis anblickt, sehe ich dich an, wenn er dich anlächelt, ist es mein Mund! Sag, was du willst!«
»Ruhe! Vor Ihnen, Madame!«
Das beleidigt sie, dachte er. Das trifft sie – die Frau, nicht die Göttin! »Verlassen Sie den Körper des Jungen sofort!« sagte Huber grob. »Entscheiden Sie sich endlich. Wollen Sie Mutter sein oder Geliebte?«
»An diesen Satz sollst du denken!« sagte die kalte Stimme. »Vergiß ihn nicht.«
Der Junge zuckte zusammen. Die weiten Augen verengten sich, das innere Strahlen in dem Gesicht erlosch. Er sank zurück, Schweiß bedeckte plötzlich den ganzen Körper. Sein Atem flog.
»Das ist unverantwortlich!« schrie Huber und holte sein Stethoskop. »Vroni, die Tasche! Hol die Spritzen heraus. Schütte alles aufs Bett, ich suche mir das Nötige heraus. Mach schnell!«
Er beugte sich über den Jungen. Der Atem des Kindes rasselte, sein Herz hämmerte wie wild. Dann lief wieder ein Zucken durch den schmalen Körper, ehe er sich streckte. Schlagartig hörte der laute Atem und das Herzjagen auf: Sikinophis schlief. Huber tastete die Brust mit dem Stethoskop ab, maß Puls und Blutdruck und richtete sich dann auf.
»Alles wieder einpacken!« sagte er resignierend. »Wir brauchen es nicht. Alle Funktionen sind wieder normal. Verdammt! Ich zweifele langsam an allen ärztlichen Lehren! Wir sind Stümper gegen das, was wir hier erleben, wenn es um die Seele geht. Aber ein Osteom können sie nicht operieren.«
Am frühen Morgen des übernächsten Tages wurde Sikinophis von vier festlich gewandeten Priestern abgeholt.
Überall erklangen Gongschläge – in den Tempeln, von den Berghöhen, in den Straßen. Ein ganzes Volk betete für den Sohn der Sonne.
Huber war schon vorausgegangen und wurde im OP von Dombono, den Oberärzten und Doktor Stricker empfangen. Das große Zimmer roch betäubend nach dem herbsüßen Saft der Reinheit. Nach Dombonos Zusicherung mußte das Zimmer völlig steril sein. Auch Alex Huber wurde mit dem Saft besprengt, als er hereinkam. Aus einem Räuchergefäß quoll roter Qualm, mit dem er von allen Seiten eingenebelt wurde.
»Das hat nicht mal der Papst«, hörte er Stricker sagen.
Ein gutes Wort, wenn auch typisch für Stricker, aber es nahm bei Huber sofort einen Teil der inneren Last, die er seit dem frühen Morgen mit sich herumschleppte: Es ist nicht nur ein Osteom, das du herausschälst. Mit deinem Skalpell rettest du sechs Menschenleben, wenn sie ihr Versprechen halten!
Die Tür sprang auf. Sikinophis wurde hereingerollt. Die Priester verneigten sich tief. Selbst Dombono senkte sein Haupt tiefer als sonst.
Huber trat an das Bett. Der Junge lächelte.
»Angst?« fragte Huber.
»Ja.«
»Bin ich dein Freund?«
Der Junge nickte. Man sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, jetzt tapfer zu sein. Er war ein ganz normales Kind, und in den Augenwinkeln glitzerten Tränen.
»Dann woll'n wir mal!« sagte Huber bewußt forsch. Er ging zum OP-Tisch. Auf einem kleineren Tisch, auf einem weißen Tuch, lagen seine seit Stunden ausgekochten Instrumente. Eine kleine hübsche Schwester lächelte ihn verlegen und bewundernd an.
Wie bei uns, dachte er. Nur wird der Chef nicht ausgeräuchert, sondern beweihräuchert.
Eine geradezu törichte Fröhlichkeit überkam ihn.
»Sie sehen aus wie ein glücklicher Mensch, Huber«, sagte Stricker, der auf der anderen Seite des OP-Tisches stand.
»Wenn Sie wüßten …«, Huber tauchte seine Hände in eine der
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