Wen die schwarze Göttin ruft
Rotwein mit Ei. Kräftiges Essen. Gibt es hier überhaupt Rotwein? Wie mitleidig haben wir Ärzte immer gelächelt, wenn die Krankenhausbesucher heimlich den Operierten die Eier in eine Tasse mit Wein quirlten. Es gibt nichts Hochmütigeres als einen Mediziner.
»Wie sieht das Bein aus?« fragte der Junge schwach.
»Hervorragend!« Noch, dachte Huber, noch! Wie wird es übermorgen sein? Gott im Himmel, wenn da was zu eitern anfängt.
Bis zum Abend saß er am Bett. Veronika ruhte noch. Bald übernahm sie die erste Nachtwache, danach legte sie sich wieder hin, und Alex trat die zweite Nachtwache an.
»Ich habe gebetet«, hatte sie gesagt, als Huber vom OP zurückkam. »Ich habe auf den Knien gelegen und gebetet. Ich glaube, es gibt doch einen Gott.«
In dieser Nacht, der Junge schlief tief und schmerzfrei, dachte Huber an Sikinika. Die Operation war gelungen, sein Faustpfand für Veronika war nichts mehr wert. Jetzt würde der Kampf der Frauen beginnen.
Er saß neben dem Jungen auf dem Hocker und kontrollierte gerade wieder mit dem Stethoskop die Atmung, da spürte er auf einmal, daß er nicht mehr allein im Zimmer war. Er riß die Schläuche aus den Ohren und fuhr herum.
Eine fremde Frau stand hinter ihm. Hellhäutig, in einem einfachen langen Kleid, schlank und langbeinig, mit offenen braunen Haaren. Ihr wundervoll harmonisches Gesicht erinnerte ihn an die Bilder alter spanischer Meister.
»Wie kommen Sie hier herein?« fragte er und stand auf. »Wer sind Sie? Wieso hat man Sie durchgelassen?«
»Wer sollte mich aufhalten?« sagte sie. Ihre Stimme war warm und dunkel, eine Stimme, wie in Samt gebettet. Sie trat an das Bett und beugte sich über den Jungen. »Eine Mutter darf doch ihr Kind besuchen.«
21
Sprachlosigkeit kam bei Alex Huber selten vor. Es gab nur ein paar wenige Augenblicke in seinem Leben, in denen er einer Situation unbeholfen, machtlos – kurzum sprachlos gegenübergestanden hatte. Und drei derartige Situationen hatte er ausgerechnet in Urapa erlebt; einmal, als er diese geheimnisvolle Stadt entdeckte – das zweite Mal, als er die Käfige, mit den Menschen darin, an der Tempelmauer schweben sah, und zuletzt, als ihn die Göttin von Urapa an sich zog und küßte, wie ihn noch nie eine Frau geküßt hatte.
Jetzt war es wieder so: Er starrte die fremde, schöne Frau mit dem altspanischen Gesicht entgeistert an und hinderte sie nicht daran, sich tiefer über den Jungen zu beugen und ihn auf die geschlossenen Augen zu küssen. Erst als sie sich aufrichtete und auf den Hocker setzte, von dem Huber aufgesprungen war, fand er seine Sprache wieder.
»Irren Sie sich auch nicht?« fragte er. Eine saudumme Frage! Er ärgerte sich maßlos darüber. Er ging auf die Frau zu. Ihr langes gelocktes Haar schimmerte in dem gedämpften Licht wie dunkles, poliertes Mahagoni. Eine satte, herrliche Farbe.
»Das ist Sikinophis«, sagte er, und das war ebenso dumm wie seine Frage. Er mußte seine Hilflosigkeit hinnehmen, denn der Anblick dieser Frau hatte ihn wahrhaftig gelähmt.
»Ich weiß«, sagte sie dunkel.
»Der Sohn der Sonne.«
»Ich bin die Sonne.«
Eine Verrückte, dachte er enttäuscht. Das durfte nicht kommen. Eine Frau wie einem Gemälde entstiegen, und dann geisteskrank? Wo kam sie her? Wieso lief sie frei herum? Im Krankenhaus, im abgesperrten Teil? Hatte Dombono die Wachen etwa zurückgezogen?
Ein häßlicher Verdacht stieg in ihm auf. War diese Frau die erste Waffe Dombonos? Eine Verrückte, die mordet? Wer kann sie dafür verantwortlich machen?
Mit aller Kraft griff er zu, riß die Frau vom Hocker, weg vom Bett. Er schleuderte sie gegen die Wand. Sie wehrte sich nicht, hielt sich an dem nahen Tisch fest und lehnte sich dann an die Mauer. Ihr langes Haar, über ihr Gesicht fallend wie ein Vorhang, verbarg ihre Augen. Aber ihr Mund lächelte.
Huber spürte ein seltsames Frösteln. Allein mit einer Wahnsinnigen – das ist auch für einen Arzt keine unkritische Situation. Es gibt nur zwei Dinge: Sie mit Reden aufzuhalten – falls sie durch Worte überhaupt zugänglich ist – oder sie zu überwältigen und unschädlich zu machen. Eine Injektion genügt, aber um sie zu geben, muß man sie erst aller Gegenwehr beraubt haben.
Äther, dachte Huber plötzlich. Verdammt, ich habe den Äther noch im OP. Aber das Chloroform ist in der Tasche. Das gute alte verdammte, aus der modernen Medizin verbannte Chloroform! Ich habe es eigentlich nur mitgebracht, um im Notfall kleine Rauschnarkosen zu
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