Wen die Sehnsucht besiegt
«
»Wenn ich so mit ihm rede, wird er böse. «
»Ja, und während er vor Wut tobt, stelle ich Eurer Erbin eine Falle. Ihr fürchtet Euch doch nicht vor Eurem Bruder? «
»Nun, vielleicht… Nein! Bringt nur getrost die Blumen ins Verlies. Welchen Schaden können sie schon anrichten? «
»Ganz recht. « Tode wartete eine Weile, bis Henry davongegangen war, dann hob er die Plane, die den Wagen hinten verdeckte. »Jetzt dürft Ihr herauskommen. «
»Oh, Ihr seid der brillanteste Mann, dem ich je begegnet bin! « beteuerte Berengaria, als er ihr half, von der Ladefläche zu steigen. »Mein Leben lang werde ich in Eurer Schuld stehen, und meine Schwester… Autsch! «
»Tut mir leid, ich bin ausgerutscht«, sagte Axia. »Nun sollten wir keine Zeit mehr mit diesem Gerede verschwenden. «
»Natürlich nicht«, kicherte Tode.
Eine gute Viertelstunde später eilten Tode, Axia und Berengaria die Treppe hinab, die in den Keller führte, zu den Küchenräumen und Verliesen. In der allgemeinen Aufregung seit Frances’ Flucht bemerkte niemand, wie Axia die Hand ihrer blinden Schwägerin hielt. Fürsorglich wies sie die junge Frau auf brüchige Fliesen hin, wo man leicht stolpern konnte, und forderte sie flüsternd auf, über einen Abfallhaufen hinwegzusteigen.
»Widerlich! « zischte sie, aber Tode brachte sie mit einem kurzen Blick zum Schweigen. Einmal mußten sie warten, während er Grimassen schnitt, um Küchengehilfen abzulenken. Seine Begleiterinnen drückten einander die Hände. Beiden mißfiel es, daß er sich so erniedrigen mußte. Nachdem sie den Küchentrakt verlassen hatten, gingen sie durch ein Labyrinth alter Korridore, gefüllt mit Fässern, Kisten und rostigen landwirtschaftlichen Geräten. Offenbar wurde alles, was Henry Olivers Familie jemals besessen hatte, im Keller verwahrt, und Axia mußte aufpassen, damit Berengaria nicht stolperte. Da und dort steckte eine Fackel in einem Eisenring an der Steinmauer, aber meistens mußten sie sich einen Weg durch dichtes Dunkel bahnen. Nach einer halben Ewigkeit erreichten sie einen kleinen, hell erleuchteten Raum. Die massive Eichentür stand offen, und sie traten lautlos ein. Drei Wände bestanden aus feuchten Steinen, statt der vierten gähnte ein finsterer Tunnel der sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Davor saß ein Wachtposten an einem Tisch und schlief, das Kinn auf die Brust gesenkt.
Halb erleichtert, halb furchtsam beobachtete Axia den Mann. Tode hatte erklärt, wenn es an der Zeit sei, würde ihm schon etwas einfallen, um den Wächter auszuschalten. Schlimmstenfalls wollte er ihn mit albernen Späßen ablenken, während die beiden Frauen zu Jamie gingen. Auf Axias Frage, was geschehen sollte, wenn ihr Mann gefunden war, hatte Tode keine Antwort gewußt.
An der Wand, direkt neben dem Kopf des schlafenden Wächters, hing der Zellenschlüssel. Wenn es Tode gelang, ihn möglichst geräuschlos an sich zu nehmen, war der erste Schritt getan.
»Was ist los? « wisperte Berengaria ängstlich.
»Pst! « mahnte Axia und fürchtete, der Wächter würde erwachen. Nervös beobachtete sie, wie Tode den Schlüssel ergriff, der leise klirrte.
»Oh, was war das? « fragte Berengaria, und Tode wandte sich unwillig zu ihr.
Ärgerlich drückte Axia die Hand ihrer Schwägerin, um ihr zu bedeuten, sie solle schweigen. Dann flüsterte sie, weil Berengaria erneut den Mund öffnete: »Der Wächter schläft. «
In normaler Lautstärke, die in der Stille des Tunnels wie Kanonendonner klang, meinte Berengaria: »Nur wir drei sind hier. «
Von kalter Angst erfaßt, schaute Axia zum Wächter hinüber, der immer noch tief und fest schlief.
»Da ist niemand, so glaubt mir doch«, sagte Berengaria ungeduldig.
Erst jetzt schaute sich Tode den Mann, der reglos dasaß, etwas genauer an. Nicht einmal die Brust wurde von Atemzügen gehoben.
Vorsichtig berührte Tode die Schulter des Wächters, die sich warm anfühlte. Doch der Mann bewegte sich noch immer nicht. Tode tastete nach dem Puls am Hals. Nichts. Dann stieß er die schlaffe Gestalt an, und sie fiel vornüber. Axia hörte, wie die Stirn am Boden aufprallte, und zuckte zusammen.
Als Tode den schweren Körper zur Wand drehte, sahen sie ein kleines Messer in der Brust stecken, genau an der richtigen Stelle. Der Mann mußte sofort gestorben sein. »Jamie! « Axia ließ die Blumen fallen und rannte in die Finsternis des Tunnels.
Hastig nahm Tode eine Fackel von der Wand, packte Berengarias Hand und folgte
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