Wen die Sehnsucht besiegt
schwarze Schatten gehüllt, kauerte Tode, aber sie bemerkte ihn nicht. Die Stirn nachdenklich gerunzelt, blieb er noch eine Zeitlang sitzen. Dann erhob er sich steifbeinig und hinkte zu seiner Schlafkammer.
8
»Da ist er! « Frances stürmte ins Zimmer ihrer Kusine und riß die Bettgardinen auseinander. Da die Fenstervorhänge am Abend nicht zugezogen waren, schien grelles Sonnenlicht in Axias Gesicht. »Oh, er ist einfach himmlisch, so freundlich und rücksichtsvoll. Er hat Manieren wie ein Fürst. Und er ist der schönste Mann auf Erden. « Natürlich brauchte sie nicht zu erklären, wer »er« war.
»Außerdem ist er mein Liebhaber«, murmelte Axia, die nur widerstrebend aus ihren schönen Träumen erwachte. »Was? Was hat meine arme Verwandte gesagt? «
»Nichts, Frances. Warum bist du so früh auf? Und was hast du da an? «
»Gelbe Seide. Himmlisch, nicht wahr? Dieses Kleid habe ich mir für die Reise aufgehoben. «
Axia seufzte. Dieses Anwesen benutzte ihr Vater oft als Station für die Wagen, die seine Waren durch das Land beförderten. Wann immer eine Ladung Seide aus Frankreich oder Leder aus Italien eintraf, bediente sich Frances. Natürlich beauftragte sie den Verwalter, seinem Herrn zu berichten, die Materialien seien für die Erbin bestimmt. Axia selbst fand die steife Seide viel zu unbequem, um darin auf Leitern zu klettern und Äpfel zu pflücken. Und aus Satinstoffen ließen sich ihre Malfarben nicht herauswaschen. Eigentlich hatte sie sich nie besonders für Kleidung interessiert.
»Also hast du dieses himmlische Gewand für heute aufgehoben? « fragte sie und gähnte. »Und wie viele andere Kleider sind für die Reise bestimmt? Die Garderobe einer Königin? « Sie wußte immer haargenau, welche Summen ihre Kusine ausgab oder welche Sachen sie dem Warenlager entnahm.
Frances musterte sich im kleinen Standspiegel auf dem Fenstertisch. »Ach, du hättest hören sollen, was er vorhat«, bemerkte sie und beobachtete Axia im Spiegel. »Bald bin ich seine Frau… «
Zu ihrer Genugtuung setzte sich Axia kerzengerade im Bett auf. »Was? «
Frances wandte sich zu ihr und lächelte honigsüß. »Oh, es ist schon so spät. Ich muß mich beeilen. Wie gut, daß du verschlafen hast! Dadurch fanden James und ich heute morgen reichlich Zeit, um uns anzufreunden. « Mit diesen Worten huschte sie aus dem Zimmer.
Erbost schaute sich Axia nach einem Gegenstand um, den sie auf die Tür schleudern konnte, und fand nur ihre Schuhe. Die erzeugten leider nur ein schwaches Geräusch, als sie das Holz trafen. Aber Frances mußte gelauscht haben, denn sie lachte perlend, ehe sie in die Halle hinunterrannte.
Will er sie tatsächlich heiraten, fragte sich Axia und schlug die Bettdecke zurück. Wie hat sie ihn bloß dazu gebracht? Und wie kann jemand innerhalb weniger Stunden soviel Ärger machen?
Rasch zog sie sich an, verschnürte ihr Kleid und warf einen wehmütigen Blick zu dem Ständer, wo normalerweise das Käppchen ihrer Mutter hing. Dann verließ sie ihre Schlafkammer. Wie sich ihr Leben verändert hatte… Erst die vergangene Nacht, jetzt dieser Tag! Heute würde sie eine wunderbare Reise antreten. Während sie die Treppe hinabstieg und ihr Haar zu einem ordentlichen Knoten zusammensteckte, überlegte sie: Was werde ich sehen? Wen werde ich kennenlernen? Werde ich etwas essen, das ich noch nie gekostet habe? Welche neuen Gerüche werde ich wahrnehmen, welche Geräusche hören?
Als sie die Salontür öffnete, hielt sie inne. Da stand er zwischen seinen beiden Gefolgsmännern, das Sonnenlicht im Rücken, so daß seine dunklen Locken golden glänzten. Träumerisch betrachtete sie seinen Hals, den sie letzte Nacht so oft geküßt hatte, die breiten, kraftvollen Schultern. Auf einen Tisch gestützt, studierte er eine Landkarte. Der Anblick seiner Hände weckte Erinnerungen an leidenschaftliche Zärtlichkeiten, und sie mußte sich an den Türrahmen lehnen. Würde er sie wiedererkennen? Könnte sein Herz ihm verraten, wer sie war? Verwirrt blinzelte sie und wandte sich von Jamie ab. Erst jetzt entdeckte sie Frances und Tode. Beide starrten sie an, ihre Kusine mit einem spöttischen Lächeln, und Axia zwang sich zu einer ausdruckslosen Miene. Niemand durfte wissen, was sie empfand.
»Guten Morgen! « rief sie leichthin.
Tode nickte ihr schweigend zu, wobei er sie immer noch seltsam anschaute. Frances’ Lächeln vertiefte sich, und Jamie runzelte die Stirn. »Offensichtlich pflegt Ihr zu verschlafen«, bemerkte er
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