Wen die Sehnsucht besiegt
nach einem persönlichen Wort von Jamie. Eine halbe Ewigkeit war verstrichen, seit er sie zuletzt umarmt hatte. »Nichts«, erwiderte Joby voller Genugtuung und reichte das Pergament ihrer Schwester.
Erstaunt beobachtete Axia, wie die Blinde über den Brief strich. »Jamie lügt«, flüsterte Berengaria, »und ich fürchte, er schwebt in großer Gefahr. Er braucht unsere Hilfe. « »Nun, dann schicke ich einen Boten zu unseren reichen Verwandten«, sagte Joby. »Sicher werden sie uns beistehen. «
Axias Gedanken überschlugen sich. Also konnte Berengaria tatsächlich einem Brief entnehmen, wie der Schreiber sich fühlte? Welch eine Begabung… »Du spürst es, wenn jemand lügt? « wisperte sie ehrfürchtig. »Weißt du eigentlich, wieviel Geld du damit verdienen könntest? «
Entrüstet wandte sich Joby zu ihr. »Niemand wird Berengaria ausbeuten! Welch eine gräßliche Idee! Berengaria sitzt auf dem Jahrmarkt in einer Bude und prophezeit den Leuten die Zukunft! «
»Oh, das könntest du, Berengaria? « fragte Axia eifrig.
Eine Zeitlang hörte Berengaria schweigend zu, während Joby erklärte, die Montgomerys seien keine Krämerseelen, die mit ihren Talenten hausieren gingen.
Aber dann ergriff Berengaria das Wort. »Wir brauchen Geld, Joby. Und wir haben auch versucht, die Schönheit unseres Bruders zu verkaufen. Wo liegt da der Unterschied? «
Joby starrte sie entsetzt an, fühlte sich betrogen und verraten. »Das ist ein gewaltiger Unterschied! «
Seufzend ließ Berengaria das Thema fallen. Sie wollte nicht zwischen die Fronten ihrer kleinen Schwester und ihrer neuen Schwägerin geraten, aber sie gestand sich ein, daß ihr Axias Vorschlag gefiel. Wie gern würde sie sich nützlich machen und der Familie nicht mehr zur Last fallen…
26
Axia schaute von einer Schwägerin zur anderen. Die jüngere, ein zwölfjähriger Satansbraten, bemühte sich unentwegt, ihr das Leben zur Hölle zu machen.
Was immer Axia auch anfing, nach Jobys Meinung machte sie alles falsch. Sogar die Säuberung des Saustalls, der hier »Küche« genannt wurde, war eine Provokation gewesen. Immer ungeduldiger hatte Axia die Rückkehr ihres Mannes herbeigesehnt. Sicher würde er seine Schwester zur Vernunft bringen. Aber nun sah es aus, als müßte sie noch länger in diesem elenden Gemäuer ausharren - auf sich allein gestellt. Die illustren Verwandten sollten Jamie helfen, irgendein Problem zu lösen. Offenbar drohten ihm ernsthafte Gefahren. Drei Banditen konnte er mühelos abwehren. Aber wenn zwanzig Mann über ihn herfielen? Würden sie ihn in ein Verlies werfen, foltern und verhungern lassen? Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, um diese grausigen Gedanken zu verscheuchen.
Sofort erschienen neue Schreckensvisionen vor ihrem geistigen Auge. Was geschah mit Frances? Wer betreute sie? Wurde sie in der Nähe von Gänseblümchen gefangengehalten?
Plötzlich hob sie den Kopf, ebenso wie Berengaria. Da kam noch jemand. Aber diese Schritte kannte Axia. Ohne ihrer neuen Familie einen Blick zu können, raffte sie die Röcke und lief davon.
Kaum hatte Tode das Tor des alten Schlosses erreicht, als sie ihn auch schon entdeckte. Was die Leute ringsum dachten, kümmerte sie nicht. Mit ausgebreiteten Armen lief sie ihm entgegen, und er preßte sie so fest an sich, daß ihre Füße über dem Boden schwebten. Das Gesicht in seiner Kapuze vergraben, vergoß sie Freudentränen. »Oh, ich habe dich so vermißt. Immerzu mußte ich an dich denken. «
»Obwohl Ihr mit Eurem hübschen Jamie zusammen wart? « fragte er grinsend.
»Was ist ein Ehemann , verglichen mit einem Freund? « Tode stellte sie auf die Beine, trat zurück und hob die Brauen. Da merkte sie, daß sich irgend etwas an ihm verändert hatte. Lag es an ihrer Heirat? Warum lachte und scherzte er nicht?
»Gewiß bist du müde«, meinte sie. »Komm ins Haus und laß dich verwöhnen. «
»Nur zu gern«, antwortete er und nahm ihren Arm.
In der Halle blieb sie nur lange genug stehen, um bei den Dienstboten Speisen und Getränke zu bestellen. Dann führte sie ihn die Wendeltreppe hinauf, zum Sonnenzimmer, das sie für den schönsten Raum des ganzen Schlosses hielt. Nun würde sie gleich herausfinden, was mit Tode los war. Wie seine Schritte verrieten, taten seine Beine ziemlich weh. Axias sorgenvolle Frage beantwortete er mit der Erklärung, er sei stundenlang gelaufen oder in einem Wagen umhergeschleudert worden.
Zu Axias tiefster Enttäuschung wurden sie im Sonnenzimmer von ihren
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