Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
dem einzigen anwesenden Weibchen (mir). Doch, halt, jetzt passiert was.Sie kichern und giggeln. Das könnten erste Lockrufe sein. Sie wenden dem Weibchen demonstrativ den Rücken zu. Gackern, Flügelschlagen, sie scharren mit den Krallen.
Was ist das? Sie falten das goldfarbene Verpackungsmaterial der Schokowaffeln zu Streifen – und schieben sie sich in den Mund. Seltsames Stammesritual! Ob das in der Wissenschaft schon irgendwo beschrieben ist?
Mit abgewandten Gesichtern hantieren die Jungmännchen an ihren Kauwerkzeugen. Achtung, jetzt richten sie sich auf, drehen sich um und grinsen breit in Richtung des Weibchens, das Desinteresse heuchelt.
Hmpfr. Die Zähne der Jungs – sind goldfarben.
Glucks. Das Weibchen kichert.
Die drei strahlen um die Wette.
Okay. Objektiv betrachtet sehen sie ziemlich blöd aus. Aber das tun balzende Gockel auch. Fest steht: Die wollen meine Aufmerksamkeit.
Geschafft! Ich bin die Balzkönigin!
So, was macht man als Weibchen jetzt? Benny ist ja dabei. Soll ich ihn jetzt schon erhören?
Och, nö, der soll sich ruhig noch ein bisschen anstrengen. Ich lächele den jetzt einfach mal an, so als Belohnung, und dann schreibe ich weiter. Mal sehen, was er macht.
Moment mal, da kommt Maiken. Und sie – das ist ja der Hammer!?!?!?!
7.30 Uhr Als Maiken eben hereinkam, fiel mir doch glatt der Stift aus der Hand. Auch die Jungs saßen mit offenem Mund da und gafften mit goldenen Zähnen. Es war plötzlich so still,dass man das Wasser in den Leitungsrohren gluckern hören konnte. Maiken hatte keinen Pferdeschwanz mehr. Ihre Haare waren kurz, standen stachelig vom Kopf ab, und sie hatte ein paar lila Strähnen.
Maiken. Lila Strähnen. Henna hätte ich ja noch erwartet, aber Chemie? Oder waren die mit Blaubeersaft gefärbt?
Ihre Augen hatte Maiken dick mit schwarzem Kajal umrandet. Und dann das Kleid. Ich habe Maiken noch nie in einem Kleid gesehen, normalerweise trägt sie Jeans und einen Kapuzenpulli. Und jetzt ein Kleid, und zwar eines, das nicht wie andere Kleider ist. Es ist lang, schwarz, aus einem samtigen Stoff und hat als Oberteil eine Art geschnürte Weste, die ein bisschen wie ein Mieder wirkt. Nicht, dass Maiken dabei Haut entblößt hätte, sie trug darunter ein schwarzes T-Shirt mit einem ganz normalen, runden Ausschnitt. Aber trotzdem sah sie ganz schön sexy aus. Eine Mischung aus Gothic Queen und Elfe. Nicht von dieser Welt. Ein solches Wesen sieht man normalerweise nicht im Klassenzimmer der 10 b.
Maiken steuerte auf den Platz neben mir zu, warf einen schwarzen Lederbeutel auf den Tisch, in dem sich offenbar neuerdings ihre Schulsachen befanden, und sagte »Hi«. Das war wie ein Startschuss für die Klasse, das Standbild verwandelte sich wieder in laufende Bilder, man hörte Gesprächsfetzen, und alle machten da weiter, wo sie vor ihrer Erstarrung aufgehört hatten.
»Wer bist du und was hast du mit Maiken gemacht?«, fragte ich wenig geistreich.
»Schön, dass es dir gefällt«, sagte sie.
»Wafn mip bir lof?«, fragte Tom.
»Nimm das lieber aus dem Mund«, sagte Maiken freundlich. »Du sabberst.«
Was sollte ich jetzt bloß sagen? Oder tun? Sollte ich sie nach Hause schicken? Ihr eine Mütze aufsetzen? Meine Sporthose anbieten? Ich wünschte sehnlichst, Dana wäre da und würde die Situation retten.
War sie aber nicht. Und Maiken ist meine Freundin. Ich musste zu ihr stehen, auch wenn bei ihr eine Sicherung durchgebrannt war.
»Tolles Kleid«, sagte ich, und das war immerhin mal ein Anfang.
»Das hab ich schon seit einem halben Jahr«, sagte sie, »ich habe mich nur nie getraut, es anzuziehen. Aber dann dachte ich: Warum eigentlich nicht?«
Ja, warum eigentlich nicht. Andererseits – warum? Ihre Balzchancen würde Maiken damit nicht erhöhen, das war klar. Ich erklärte ihr ganz leise, was meine wissenschaftlichen Studien ergeben hatten. Grau und unscheinbar, so lautete das Erfolgsrezept für Weibchen.
»Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich balzen will?«, fragte Maiken viel zu laut.
»Psssst«, sagte ich. »Darum geht es doch, darum geht es immer! Kratz mal die Kulturtünche ab, die wir Menschen uns auf unsere Fassaden geschmiert haben und was übrig bleibt, ist ein nackter Affe auf der Suche nach einem Fortpflanzungspartner. Um seine Gene zu erhalten. That’s it.«
»Äh, Lilia, geht’s dir noch gut?«, fragte Maiken. »Eigentlich hab ich’s gerade nicht eilig mit der Fortpflanzung.«
»Denkst du! Aber du bist so programmiert, verstehst du? Da
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