Wen küss ich und wenn ja, wie viele? - Lilias Tagebuch
Schreibtischstuhl und zeigte ihm meinen Bücherstapel.
»Schau mal, so viel Material habe ich schon für mein Referat.Ich werde das alles lesen, auch wenn ich’s für ein Kurzreferat eigentlich gar nicht brauche.«
Mit einem kleinen Wort wie ›warum‹ oder ›wieso‹ als Reaktion auf mein Statement wäre ich voll zufrieden gewesen, aber da kam keine Antwort. Tom sagte einfach – nichts. Neuer Anlauf.
»Das ist das erste Referat, bei dem ich echt was fürs Leben lerne.«
Lange Pause.
Wieder nichts.
Letzter Versuch!
»Wer nämlich die Tiere durchschaut, der weiß auch mehr über die Menschen. Und gerade bei der Balz ist das echt anwendbares Wissen.«
Schweigen.
»Tom?«
»Ja?« Er sah erschrocken aus. War wohl tief in Gedanken gewesen.
»Was ist los mit dir?«
»Nix. Wieso?«
»Du antwortest mir nicht!«
»Oh, sorry! Hast du was gefragt?«
»Nicht direkt. Ich habe versucht, eine Unterhaltung mit dir zu führen.«
»Okay. Unterhalten wir uns halt.«
Mann, der war ja drauf! Das klang wie bei einem alten Ehepaar. Aber ich wollte jetzt wirklich was von ihm wissen, ich konnte nicht lockerlassen.
»Ich hab mal eine Frage an dich, es geht um das Thema meines Referates.«
»Okay.« Er sah gelangweilt aus.
»Nur mal angenommen, ein Junge hätte ein Mädchen angebaggert und sie hätte ihm signalisiert, dass da was laufen könnte …«
»Hä? Referat?« Jetzt riss er die Augen auf.
»Genau. Referat. Zurück zur Frage. Angebaggert – und dann? Wie geht’s weiter?«
»Weiter?« Jetzt sah er aus, als hätte er Zahnschmerzen. War wohl nicht sein Lieblingsthema. Aber meins! Ich durchbohrte ihn mit Blicken, ich wollte jetzt eine Antwort, und zwar sofort.
»Ja, sie müssen sich doch jetzt irgendwie irgendwann mal küssen. Aber wie macht man das? Wie kommt man dahin, so als Exemplar der Gattung Mensch?«
»Hör mal, Lil, ich hab keine Ahnung, was du meinst!«
»Ich will wissen, wie ein menschliches Männchen und ein menschliches Weibchen nach gelungener Balz zum Küssen übergehen. Ist das so schwer zu kapieren? Wie würdest du das machen?«
»Na, das hängt doch davon ab, wer sie ist und wie sie ist und von der Situation und so.«
»Wie jetzt? Kapier ich nicht.«
»Das kommt doch total auf das Mädchen an. Das kann man nicht so pauschal sagen.« Ausflüchte waren das. Nichts als Ausflüchte! Ich sah ihm an, wie unangenehm ihm das Thema war, er hatte einfach keine wissenschaftliche Distanz dazu. Sogar ein bisschen rosarot war er geworden.
»Ich mein jetzt nicht irgendwelche unwichtigen Details, die du je nach Weibchen variierst. Ich denke an das Prinzip, das diesem Stadium deiner Balz zugrunde liegt. Irgendetwas an deinem Balzverhalten ist doch bestimmt arttypisch, das machenalle Jungs gleich. Lass uns doch mal zusammen herausfinden, was das ist.«
»So ein Quatsch!«
»Tom, du musst jetzt mal ein bisschen allgemeiner denken. Also, was machen Menschenmännchen, wenn sie ein Mädchen küssen wollen?«
»Ach, das meinst du.« Er legte die Fingerspitzen aneinander und dachte nach. »Jaaa, also, meistens passiert das bei Vollmond. Wir blähen dann die Nüstern auf, nehmen die Witterung brünstiger Weibchen auf und jagen auf ihrer Fährte durch unser Revier. Unterwegs erlegen wir ein paar Rivalen. Wenn wir ein Rudel Weibchen gefunden haben, küssen wir sie alle, begatten so viele wie möglich und legen uns danach erschöpft ins Unterholz, um Kraft zu schöpfen bis zum nächsten Vollmond.«
»Du bist doof!«
»Die Frage ist doof!«
»Ist sie nicht.«
Er schwieg trotzig.
»Willst du was trinken?«, fragte ich, und als er nichts sagte, deutete ich das als eindeutiges Ja. Es war heiß draußen und er wirkte schlapp und schwunglos. Aber die eiskalte Cola, die ich ihm aus der Küche holte, brachte seine Lebensgeister auch nicht zurück.
»Pass mal auf«, nahm ich noch einen Anlauf. »Frau Dr. h.c. Lilia Kirschl-Kirschesfeld hat eine hochwissenschaftliche Theorie entwickelt.«
»Erzähl sie mir ein anderes Mal«, sagte Tom, stand auf und ging zur Tür.
»He, wo willst du hin?«
»Muss los. Muss noch eine Mail an Felix schreiben, hab’s ihm versprochen.«
»Wie geht’s dem denn in der Kur?« Toms Kumpel Felix hat sich neulich bei einem fiesen Fahrradunfall die Hüfte gebrochen und jetzt macht er eine Reha.
»Ganz gut.«
»So genau wollte ich’s gar nicht wissen.«
»Sind wohl fast nur alte Leute da. Aber er hat seine Gitarre dabei und will ein paar Songs schreiben. Dem wird’s nie langweilig
Weitere Kostenlose Bücher