Wen liebst du, wenn ich tot bin?
Matty?«
»Wie bitte?«
»Warum wolltest du, dass ich zu dir komme?« Ich stützte mich auf die Bettkante und zwang mich, ihrem Blick standzuhalten. Eines ihrer braunen Augen war von leuchtenden Blau umrahmt, was ihr beinahe ein verletzliches Aussehen verlieh; sie sah aus wie ein Panda auf dem Weg in die Disco.
Sie schüttelte den Kopf und lachte laut auf. »Iris …«
»Ich frage mich einfach …«
Ihr amüsiertes Lächeln verwandelte sich in einen Schmollmund. »Wir sind doch Freundinnen, oder nicht?«
Das Sonnenlicht fiel durch die Fenster und ließ Mattys seidiges schwarzes Haar glitzern, als sie es mit einer Hand zusammenfasste und auf die andere Schulter warf.
»Wir waren schon immer beste Freundinnen …«, sagte sie mit einem Anflug von Unsicherheit in der Stimme.
»Warum hast du mir dann diese lächerlichen Shorts gegeben?«
»Weil dir zu heiß war!«, sagte sie.
»Und warum hast du an allem etwas auszusetzen – daran, wie ich mich anziehe, wie ich bin. Sogar an meiner Familie. Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
Sie stand auf. »Oh Mann. Was ist heute mit dir los? Du warst den ganzen Morgen schon so unfreundlich …«
»Ich war unfreundlich!« Ich schnappte nach Luft. Gleich würde ich explodieren. Aber ich hielt mich zurück. Ich war nicht auf Streit aus – ich wollte nur nicht mehr so weitermachen.
»Es ist einfach so, dass es sich irgendwie gar nicht mehr nach bester Freundin anfühlt.«
Matty setzte sich neben mich auf die Bettkante. Sie blickte mich mit sanften Augen an, und ich fragte mich, ob ich einen Fehler gemacht hatte – sie konnte so nett und freundlich sein –, aber dann verfiel sie wieder in ihre zuckersüße Talkshow-Stimme. »Ist es wegen deiner Mum?«, fragte sie so übertrieben verständnisvoll, dass ich ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.
»Das hat überhaupt nichts mit meiner blöden Mum zu tun, Matty. Himmel noch mal! Das ist nicht das Einzige, was in meinem Leben passiert ist.«
Sie riss die Augen auf. »Tut mir leid, Iris. Kein Grund, gleich durchzudrehen.«
»Vielleicht habe ich ja einen Freund«, sagte ich. »Oder kannst du dir so etwas bei mir nicht vorstellen?«
»Wie bitte?«, fragte sie. Dann verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. »Wer? Dieser Zigeuner? Iris!«
»Du hast ja keine Ahnung«, sagte ich.
Ich begann, meine Jeans wieder anzuziehen. »Und deine dämlichen Shorts und alles kannst du auch behalten.«
»Wo willst du hin?«, rief sie mir nach, aber ich antwortete nicht, sondern nahm zwei Stufen auf einmal. Dann war ich draußen, die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich rannte den Gartenweg entlang. Adrenalin schoss durch meine Adern.
Im Laufen sprang ich hoch und riss eine Handvoll Ahornblätter von einem tief hängenden Ast, dabei scheuchte ich, ohne es zu wollen, eine Taube auf. Ihre grauen Flügeln schlugen, als sie sich in den wolkenlosen Himmel erhob, und ich hatte das Gefühl, dass etwas in meinem Inneren mit ihr flog.
Sechs
A m nächsten Morgen war ich früh auf den Beinen. Als ich von Matty direkt zu unserem Unterschlupf im Maisfeld gerannt war, war Trick schon verschwunden – dabei wollte ich ihn doch unbedingt sehen. Unwillkürlich blieb ich bei meiner alten Eiche kurz stehen, um einen heimlichen Blick auf seine Familie zu werfen. Auf der anderen Seite des Bachufers starrte sein Vater ins Feuer und nahm den letzten Schluck aus einer Tasse.
Der Himmel war noch blass und der Schatten der gedrungenen Gestalt fiel auf den Wohnwagen. Die Knöchel seiner rechten Hand waren bandagiert und sein breiter Nacken und die starken Schultern waren sonnenverbrannt. Ich würde es nie zugeben, aber er jagte mir Angst ein. Was, wenn er mich jetzt entdecken würde, wie ich ihn beobachtete? Ich wagte nicht, mich zu rühren.
Ich lauschte dem Plätschern des Baches und wünschte, dass Tricks Vater mir für zehn Sekunden den Rücken zuwenden würde, damit ich mich aus dem Staub machen könnte. Ich wollte weg, ich wollte sicher und wohlbehalten ans schlammige Bachufer gelangen und zwischen dem wilden Knoblauch abtauchen, die moosigen Trittsteine unter meinen Füßen fühlen und die kühle Luft am Wasser spüren. Plötzlich kippte er den restlichen Inhalt seiner Tasse ins Gras und verschwand im Wohnwagen. Ich rannte los.
Sonnenlicht brach durch das Blätterdach der Eschen und Weiden und sprenkelte die Trittsteine. Ich hielt einen Augenblick inne, holte tief Luft und wärmte mein Gesicht im warmen Schein. Dicht unter der Oberfläche
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