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Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Titel: Wen liebst du, wenn ich tot bin? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arena
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Iris«, lallte Sam und zeigte auf mich. »Du solltest nicht mit ihr sprechen. Ich hasse dich. Und ich hasse Dad. Und ich hasse sie.«
    Er drehte sich um, schlug die Tür heftig zu und schien irgendwie die ganze Luft zum Atmen mit hinauszunehmen.
    »Warum sprichst du nicht mit ihr?«, rief ich ihm hinterher. »Wenn dir so viel daran liegt! Warum sprichst du nicht mit ihr, wenn sie anruft?«
    »Halt die Klappe!«, brüllte er, ehe ihm die Stimme versagte und er nach oben rannte.
    Ich hörte, wie er sich im Zimmer über mir auf sein Bett warf. Ich stand auf. Die Klinke war noch warm, wo er sie angefasst hatte. Meine Hände zitterten. Draußen im Gang war alles still.
    Er würde mich nicht um sich haben wollen, er würde mich wegschicken, aber ich konnte nicht anders. Ich klopfte nicht an, sondern drückte die Tür nur vorsichtig auf.
    »Hau ab«, sagte er.
    Er lag genauso da, wie ich es erwartet hatte: quer über dem Bett, das Gesicht in das Kissen vergraben. Seine Adidas-Hose war hochgerutscht und ich konnte das Rippenmuster seiner weißen Sportsocken sehen. Die schmutzigen Sohlen starrten mich an wie zwei traurige Augen. Mums Ansichtskarte lag zerrissen auf dem Fußboden neben seinem Bett. Ich wusste auswendig, was sie geschrieben hatte.
    Ich denke jeden Tag an Euch beide. Ich kann es gar nicht abwarten, Euch wiederzusehen. Es dauert nicht mehr lange. Alles Liebe.
    Ich weiß noch, wie ich immer in sein Zimmer schlich, wenn Mum und Dad sich stritten. Damals war ich noch so klein, dass es mir nichts ausmachte, mich neben ihn ins Bett zu quetschen.
    Jetzt war zu wenig Platz, und er wollte nicht zur Seite rücken, aber irgendwie schaffte ich es, mich neben ihn zu legen. Er atmete stoßweise und war traurig, und das rührte schmerzhaft an jenem Teil von mir, der genauso empfand wie er.
    An die Wand hinter dem Bett hatte er mit schwarzem Filzstift einen König gezeichnet. Er hatte Mum und Dad eine halbe Ewigkeit in den Ohren gelegen, bis sie es ihm schließlich erlaubten. Mum hatte Dad sein Einverständnis abgeluchst. Wenn sie zuerst eine Probezeichnung machten, warum sollten Kinder sich dann nicht in ihrem eigenen Zimmer selbst verwirklichen, fand Mum.
    Die langen Haare des Königs wehten, als stünde er mitten in einem heftigen Sturm. Hinter dem König sah man eine mittelalterliche Burg, die gerade einstürzte. Die Zeichnung war noch nicht fertig.
    Auf dem Fußboden lag eine neue Schachtel mit Stiften, die Sam noch gar nicht geöffnet hatte. Er und Benjy teilten dieses Hobby. Benjy zeichnete großartige Cartoons, die jeden zum Lachen brachten, und Sam zeichnete fantastische Natur- und Zauberwelten. Aber er hatte schon seit Wochen nichts mehr gemacht.
    »Tut mir leid«, flüsterte ich, ohne sagen zu können, was genau mir leidtat, aber ich meinte es so.
    Aus Sams Kehle kam ein eigenartiger Laut.
    »Ich … ich habe nicht …« Ich verstummte, denn eigentlich wusste ich nicht, was ich nicht getan hatte.
    Sam hob den Arm und ich duckte mich darunter, und dann blieben wir so liegen, er mit dem Gesicht nach unten, ich unter seinen Arm geschmiegt, bis die Welt draußen verschwand und sich nur noch seine Zeichnungen an den Wänden im Fenster spiegelten.

Zehn
    M um verließ uns an einem Wochenende Mitte Mai. Der Sommer hatte noch nicht angefangen und es hatte wochenlang geregnet. Sie sagte, sie würde wiederkommen. Nicht nach Silverweed, aber nach Derby. Sie sagte, sie wollte nur eine Zeit lang weggehen, um sich über Verschiedenes klar zu werden.
    Sie belud den Transporter nachts, während wir schliefen.
    Sie nahm nur drei Kisten mit: eine mit Kleidern, die andere mit Kochgerätschaften und die dritte mit Büchern.
    »Was um alles in der Welt soll ich mit dem restlichen Krempel?«, hatte sie zu Tess am Telefon gesagt und ich hatte es mit angehört.
    Ich verstand nicht, warum das jetzt alles Krempel für sie war – so als wäre es urplötzlich aufgetaucht, um ihr auf die Nerven zu gehen. So als hätte sie die Sachen nicht selbst ausgesucht.
    Sam wollte alles behalten, was sie zurückließ, oder es zu Tess bringen, falls Dad es nicht im Haus haben wollte, aber Mum ließ das nicht zu.
    »Es ist nur eine Last für dich«, sagte sie. »Eines Tages wirst du das verstehen.«
    Und immer sprach sie mit dieser aufreizend beruhigenden Stimme, weil sie nicht wollte, dass wir traurig waren. Als ob das so einfach wäre.
    Am Morgen saßen wir noch zu dritt gemeinsam beim Frühstück. Dad ließ sich nicht blicken, er hackte draußen Holz. Als

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