Wendekreis des Krebses
Eiskeller und die Küche kaum besser. Nur in nächster Nähe des Ofens war es ein wenig warm. Mascha hatte also einen kastrierten Bildhauer aufgetan. Sie erzählte uns von ihm, ehe sie ging. Nach ein paar Tagen versuchte sie, wieder zu uns zurückzukehren, aber Fillmore wollte nichts davon wissen. Sie beklagte sich darüber, der Bildhauer halte sie die ganze Nacht mit Küssen wach. Und dann gebe es kein heißes Wasser für ihre Spülungen. Aber schließlich entschied sie, daß es ebensogut sei, wenn sie nicht zurückkam. «Dann steht nicht mehr dieser Leuchter neben mir», sagte sie. «Ewig dieser Leuchter … er machte mich nervös. Wenn du nur schwul gewesen wärst, wäre ich bei dir geblieben …»
Als Mascha weg war, nahmen unsere Abende einen anderen Charakter an. Oft saßen wir beim Feuer, tranken heißen Grog und sprachen über das Leben drüben in den Staaten. Wir sprachen über das Leben drüben in den Staaten. Wir sprachen darüber so, als sollten wir nie mehr dahin zurückkehren. Fillmore besaß einen Plan von New York, den er an der Wand angeheftet hatte. Wir verbrachten ganze Abende damit, uns über die jeweiligen Vorzüge von Paris und New York zu unterhalten. Und unvermeidlich tauchte in unseren Gesprächen immer die Gestalt Walt Whitmans auf, diese einzigartige einsame Gestalt, die Amerika im Laufe seines kurzen Lebens hervorgebracht hat. In Whitman wird die ganze Szenerie Amerikas lebendig, seine Vergangenheit und seine Zukunft, seine Geburt und sein Tod. Was immer in Amerika Wert hat, wurde von Whitman ausgedrückt, und darüber hinaus gibt es nichts mehr zu sagen. Die Zukunft gehört der Maschine, den Robotern. Whitman war der Dichter des Leibes und der Seele. Der erste und letzte Dichter. Er ist heute fast unentzifferbar, ein Denkmal, mit rohen Hieroglyphen bedeckt, zu denen der Schlüssel fehlt. Es scheint fast seltsam, hier in Europa seinen Namen zu nennen. Es gibt hier kein sprachliches Äquivalent für den Geist, den er unsterblich gemacht hat. Europa ist gesättigt mit Kunst, sein Boden ist voll toter Gebeine, und seine Museen bersten von geraubten Schätzen; aber was Europa nie gehabt hat, ist ein freier, gesunder Geist, das, was man einen MENSCHEN nennen könnte. Goethe kam dem am nächsten, aber Goethe war mit Whitman verglichen ein Popanz. Goethe war ein achtbarer Bürger, ein langweiliger Pedant, ein universeller Geist, aber mit der deutschen Schutzmarke, mit dem Doppeladler gestempelt. Die heitere Ruhe Goethes, die Gelassenheit, die olympische Haltung sind nur die schläfrige Stumpfheit einer deutschen bürgerlichen Gottheit. Goethe bedeutet ein Ende, Whitman einen Anfang.
Nach einem solchen Gespräch zog ich mich manchmal an und machte einen Spaziergang, eingemummt in einen Sweater, einen Frühjahrsüberzieher von Fillmore und darüber ein Cape. Eine durchdringende feuchte Kälte, gegen die es keinen anderen Schutz als starken Mut gibt. Es heißt, Amerika sei ein Land der Extreme, und es ist richtig, daß das Thermometer Kältegrade verzeichnet, die man hier praktisch nicht kennt. Aber die Kälte eines Pariser Winters ist eine in Amerika unbekannte Kälte, sie ist psychologischer Art, eine sowohl innere als äußere Kälte. Wenn es hier nie friert, so taut es auch nie. So wie die Menschen sich gegen das Eindringen in ihr Privatleben durch ihre hohen Mauern, ihre Riegel und Laden, ihre schimpfenden, spitzzüngigen, schlampigen Concierges schützen, so haben sie sich gegen die Kälte und Hitze eines frischen, rauhen Klimas geschützt. Sie haben sich mit Befestigungen umgeben: Schutz ist das Stichwort. Schutz und Sicherheit. Um bequem verfaulen zu können. In einer feuchten Winternacht braucht man nicht auf die Landkarte zu sehen, um den Breitengrad zu entdecken, auf dem Paris liegt. Es ist eine nördliche Stadt, ein über einem Sumpf von Schädeln und Gebeinen errichteter Außenposten. Auf den Boulevards findet man eine kalte elektrische Imitation von Hitze. Tout Est Bon in ultravioletten Strahlen, welche die Gäste der Dupontschen Café-Filialen wie in Fäulnis übergegangene Kadaver aussehen lassen. Tout Est Bon! Das ist das Motto, das die vergessenen Bettler ernährt, die die ganze Nacht unter dem Geriesel der violetten Strahlen auf und ab gehen. Wo Licht ist, gibt es ein wenig Wärme. Es wird einem warm, wenn man die dicken Kerle in gesicherter Position beobachtet, wie sie vor ihrem Grog, ihrem dampfenden schwarzen Kaffee sitzen. Wo Lichter sind, da sind Menschen auf den
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