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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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die dramatischen Möglichkeiten, die noch in diesen schwachen Leibern schlummern. Hinter den grauen Mauern sind menschliche Zündfunken, und doch kommt es nie zur Feuersbrunst. Sind das Männer und Frauen, frage ich mich, oder Schatten, Schatten von Marionetten, die an unsichtbaren Fäden baumeln? Sie bewegen sich scheinbar frei, wissen aber nicht, wohin sie sollen. Sie sind nur in einem Bereich frei und können sich dort nach Gutdünken bewegen – aber sie haben noch nicht gelernt, Flügel zu entwickeln. Bis jetzt hat es keine Träume gegeben, denen Schwingen gewachsen wären. Kein Mensch wurde leicht genug, fröhlich genug geboren, um die Erde zu verlassen! Die Adler, die eine Weile ihre mächtigen Schwingen regten, stürzten schwer auf die Erde zurück. Das Schlagen und Flattern ihrer Flügel machte uns schwindlig. Bleibt auf der Erde, ihr Adler der Zukunft. Der Himmel wurde erforscht, und er ist leer. Und was unter der Erde liegt, ist ebenfalls leer, mit Gebeinen und Schatten erfüllt. Bleibt auf der Erde und schwimmt ein paar hunderttausend Jahre weiter.
    Und jetzt ist es drei Uhr morgens, und wir haben zwei Schlampen hier, die auf dem blanken Fußboden Purzelbäume schlagen. Fillmore geht nackt mit einem Becher in der Hand umher, und sein Schmerbauch ist gespannt wie eine Trommel, hart wie eine Fistel. All der Pernod, Champagner, Cognac und Anjou, den er seit drei Uhr nachmittags hineingeschüttet hat, gurgelt in seinem Wanst wie in einem Abflußrohr. Die Mädchen legen das Ohr an seinen Bauch, als wäre er eine Spieldose. Öffnen ihm den Mund mit einem Stiefelknöpfer und stecken eine Münze in den Schlitz. Wenn das Abflußrohr gurgelt, höre ich die Fledermäuse aus dem Glockenturm fliegen, und der Traum geht ins Artifizielle über.
    Die Mädchen haben sich ausgezogen, und wir untersuchen den Fußboden, um uns zu versichern, daß sie sich keine Splitter in den Hintern jagen. Sie tragen noch ihre Stöckelschuhe. Aber der Hintern! Der Hintern ist abgenutzt, abgeschmirgelt, glatt, hart, glänzend wie eine Billardkugel oder der Schädel eines Aussätzigen. An der Wand hängt Monas Bild: sie blickt nach Nordosten: dort steht mit grüner Tinte Krakau. Zu ihrer Linken liegt die Dordogne, mit Rotstift eingekreist. Plötzlich sehe ich einen dunklen, haarigen Spalt vor mir in einer hellen, polierten Billardkugel klaffen; die Beine umklammern mich wie eine Schere. Ein Blick auf diese dunkle, unvernähte Wunde, und in meinem Hirn tut sich ein tiefer Riß auf: all die Bilder und Erinnerungen, die mühsam oder gedankenlos sortiert, etikettiert, urkundlich geordnet, eingereiht, versiegelt und gestempelt worden waren, brechen kunterbunt hervor wie Ameisen, die aus einem Spalt im Gehsteig hervorwimmeln. Die Welt hört auf, sich zu drehen, die Zeit steht still, der Zusammenhang meiner Träume ist zerbrochen und aufgelöst, und mein Inneres ergießt sich in einem großen schizophrenen Ausbruch, einer Entleerung, die mich dem Absoluten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen läßt. Wieder sehe ich die großen, ausgestreckt daliegenden Mütter von Picasso, ihre Brüste sind mit Spinnen bedeckt, ihre Legende ist tief im Labyrinth verborgen. Und Molly Bloom, die für alle Ewigkeit auf einer schmutzigen Matratze liegt. An der Toilettentür mit roter Kreide angemalte Pints und die das Klagelied anstimmende Madonna. Ich höre ein wildes, hysterisches Lachen, ein Raum voll Tetanuskrampf, und der Leib, der schwarz war, glimmt wie Phosphor. Wildes, wildes, unkontrollierbares Gelächter, und auch dieser Schlitz lacht mich an, lacht durch die moosige Behaarung, ein Lachen, das die glänzende, polierte Oberfläche des Billardballes Falten schlagen läßt. Große Hure und Menschenmutter mit Gin in den Adern. Mutter aller Dirnen, Spinne, die uns in ihr logarithmisches Grab einrollt. Unersättliche Teufelin, deren Lachen mir das Herz zerreißt! Ich blicke hinunter in diesen eingesunkenen Krater, diese verlorene und spurlos vergangene Welt, und ich höre die Glocken läuten … zwei Nonnen am Palais Stanislas und der Geruch ranziger Butter unter ihren Kleidern, nie gedrucktes Manifest, weil es regnete, ein Krieg ausgefochten wurde, um die Sache der plastischen Chirurgie zu fördern, der Prinz von Wales um die Welt flog und die Gräber unbekannter Helden schmückte.
    Jede aus dem Glockenturm fliegende Fledermaus ist eine verlorene Sache, jeder Jauchzer ein Stöhnen übers Radio aus den Privatschützengräben der Verdammten. Aus dieser

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