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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Literatur abzugehen. Mein Gedanke bestand kurz gesagt darin, eine Wiederauferstehung der Gefühle darzustellen, das Verhalten eines Menschen in der Stratosphäre der Ideen, das heißt in den Klauen des Wahnsinns zu schildern. Ein vor-sokratisches Wesen zu malen, eine Kreatur, halb Bock, halb Titan. Kurz gesagt, eine Welt aufzubauen auf der Basis des Omphalos , nicht einer ans Kreuz geschlagenen abstrakten Idee. Da und dort ist man vielleicht auf vernachlässigte Standbilder, unberührte Oasen, von Cervantes übersehene Windmühlen, bergauf fließende Flüsse, Frauen mit fünf oder sechs ihrer Leibeslänge nach angeordneten Brüsten gestoßen. (Strindberg schrieb an Gauguin: « J’ai vu des arbres que ne retrouverait aucun botaniste, des animaux que Cuvier n’a jamais soupçonnés et des hommes que vous seul avez pu créer .» )
    Als Rembrandt auf der Höhe seines Schaffens war, zog er sich mit den Goldbarren, dem Dörrfleisch und den tragbaren Betten nach unten zurück. Gold ist ein Machtwort, das dem chthonischen Denken angehört: ihm haftet Traum und Mythos an. Wir kehren zur Alchimie zurück, zu dieser verfälschten alexandrinischen Weisheit, die unsere aufgeblasenen Symbole hervorgebracht hat. Wirkliche Weisheit wird von den Knickern der Gelehrsamkeit in tiefen Kellern verstaut. Der Tag kommt, an dem sie mit Magnetiseuren in der Luft herumfliegen. Um ein Stück Gold zu finden, wird man mit einem Paar Instrumente – vorzüglich auf kalten Breitengraden – zehntausend Fuß in die Luft aufsteigen und mit den Eingeweiden der Erde und den Schatten der Toten telepathische Verbindung herstellen müssen. Kein Klondike mehr. Kein Goldrausch mehr. Man wird lernen müssen, zu singen und Luftsprünge zu machen, den Tierkreis und die Eingeweide zu lesen. Alles in den Taschen der Erde versteckte Gold wird wieder ausgegraben, dieser ganze Symbolismus wieder aus den Eingeweiden des Menschen ausgebaggert werden müssen. Aber zuerst müssen die Instrumente vervollkommnet werden. Zuerst ist es nötig, bessere Flugzeuge zu erfinden, zu unterscheiden, woher das Geräusch kommt, und nicht überzuschnappen, bloß weil man eine Explosion unter seinem Hintern hört. Und zweitens wird es nötig sein, sich den kalten Schichten der Stratosphäre anzupassen, ein kaltblütiger Fisch der Luft zu werden. Keine Ehrfurcht, keine Frömmigkeit. Keine Sehnsucht. Kein Bedauern. Keine Hysterie. Vor allem, wie Philippe Datz sagt: NIE DEN MUT SINKEN LASSEN!
    Das sind sonnige Gedanken, von einem Vermouth Cassis an der Place de la Trinité inspiriert. Ein Samstagnachmittag und ein ‹erfolgloses› Buch in meinen Händen. Alles verschwimmt in einem göttlichen Dunst. Das Getränk läßt einen bitteren, pflanzlichen Geschmack in meinem Mund zurück, die Leeseite unserer großen westlichen Zivilisation, die nun verrottet wie die Zehennägel der Heiligen. Frauen gehen vorüber – ganze Regimenter –, die alle vor mir mit ihrem Hintern wackeln. Die Glocken läuten, und die Busse fahren auf den Bürgersteig hinauf und busseln einander. Der garçon wischt den Tisch mit einem schmutzigen Lappen ab, während die patronne mit teuflischer Lust die Kontrollkasse tippt. Ein leerer Ausdruck liegt auf meinem Gesicht, betrunken, unscharf, verbissen in die mich streifenden Hinterteile. Im Glockenturm gegenüber schlägt ein Buckliger mit goldenem Hammer die Stunde an, und die Tauben kreischen Alarm. Ich öffne das Buch – das Buch, das Nietzsche als ‹das beste deutsche Buch, das es gibt› bezeichnet hat – und da heißt es:
    KLÜGER UND EINSICHTIGER WIRD SIE (DIE MENSCHHEIT) WERDEN, ABER BESSER, GLÜCKLICHER UND TATKRÄFTIGER NICHT, ODER DOCH NUR AUF EPOCHEN. ICH SEHE DIE ZEIT KOMMEN, WO GOTT KEINE FREUDE MEHR AN IHR HAT UND ER ABERMALS ALLES ZUSAMMENSCHLAGEN MUSS ZU EINER VERJÜNGTEN SCHÖPFUNG. ICH BIN GEWISS, ES IST ALLES DANACH ANGELEGT, UND ES STEHT IN DER FERNEN ZUKUNFT SCHON ZEIT UND STUNDE FEST, WANN DIESE VERJÜNGUNGSEPOCHE EINTRITT. ABER BIS DAHIN HAT ES SICHER NOCH GUTE WEILE UND WIR KÖNNEN NOCH JAHRTAUSENDE UND ABER JAHRTAUSENDE AUCH AUF DIESER LIEBEN ALTEN FLÄCHE, WIE SIE IST, ALLERLEI SPASS HABEN .
    Vorzüglich! Wenigstens gab es vor hundert Jahren einen Menschen, der genügend Sehergabe besaß, um zu erkennen, daß die Welt ausgelöscht wird. Unsere westliche Welt! Wenn ich die Gestalten von Männern und Frauen sich für ein paar Stunden, geborgen und abgesondert, ruhelos hinter ihren Gefängnismauern bewegen sehe, bin ich erschrocken über

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