Wendekreis des Krebses
legt, um dieses Regiment auszutilgen, das zwischen ihren Beinen durchmarschiert ist. Vielleicht, wenn er ihren Körper nimmt und eine neue Saite aufzieht, geschieht dies nicht nur aus Leidenschaft und Neugier, sondern es ist ein Kampf im Dunkeln, der Kampf eines Einzelnen gegen das Heer, das die Pforten erstürmt hat, das Heer, das über sie hinweggegangen, sie zertrampelt, sie mit einer so verzehrenden Begierde zurückgelassen hat, daß nicht einmal ein Rudolph Valentino sie hätte zufriedenstellen können. Wenn ich mir die Anschuldigungen anhöre, die gegen ein Mädchen wie Lucienne erhoben werden, wenn ich höre, wie sie verunglimpft oder verachtet wird, weil sie kalt und käuflich, weil sie zu mechanisch ist oder weil sie es zu eilig hat oder dies oder das, dann sage ich mir: Halt! Nicht so hastig, mein Lieber! Denk daran, daß du weit hinten in der Reihe stehst; bedenke, daß ein ganzes Armeekorps sie belagert hat, daß sie verwüstet, ausgeplündert und gebrandschatzt worden ist. Ich sage mir, hör zu, mein Lieber, laß dich die fünfzig Francs, die du ihr gibst, nicht gereuen, weil du weißt, daß ihr Zuhälter sie auf dem Faubourg-Montmartre verplempert. Es ist ihr Geld und ihr Zuhälter. Es ist Blutgeld. Es ist Geld, das nie aus dem Verkehr gezogen werden sollte, denn es gibt keine Deckung dafür in der Banque de France.
In dieser Weise denke ich oft darüber nach, wenn ich in meinem kleinen Winkel sitze, die Havas-Meldungen sortiere oder die Depeschen aus Chicago, London und Montreal ordne. Zwischen den Gummi- und Seiden-Märkten und der Winnipeger Getreidebörse sickert ein wenig von dem Brodeln und Kochen des Faubourg-Montmartre ein. Wenn die Fesseln schwach und schwammig werden, die schlummernden Dinge zur Oberfläche drängen und der Dunst aufwallt, wenn der Getreidemarkt ins Wanken und Sinken gerät und die Stiere zu brüllen anfangen, wenn jede beschissene Unglücksmeldung, jede Annonce, jeder Sportbericht und Modeartikel, jede Schiffsankunft, jeder Reisebericht, jedes Fetzchen Gerücht herausgepickt, kontrolliert, redigiert, ausgezeichnet und durch die Silberreifen getrieben ist, wenn ich höre, wie die Titelseite zusammengehauen wird, und wenn ich die Franzosen wie betrunkene Knallfrösche herumtanzen sehe, denke ich an Lucienne, wie sie den Boulevard hinuntersegelt mit gespreizten Flügeln, ein riesiger, über dem Verkehrsstrom schwebender silberner Kondor, seltsamer Vogel von den Gipfeln der Anden mit rosigweißem Bauch und eigensinnigem Köpfchen. Manchmal gehe ich allein nach Hause und folge ihr durch die dunklen Straßen, folge ihr durch den Hof des Louvre über den Pont des Arts durch die Passage, durch Gäßchen und Durchlässe, durch die Schläfrigkeit, die betäubende Weiße, das Gitter des Luxembourg, die verschlungenen Zweige, das Schnarchen und Stöhnen, die grünen Gitterstäbe, das Geklimper und Geklingel, die Sternspitzen, das Geglitzer, die Anlegestellen, die blau und weiß gestreiften Markisen, die sie mit den Spitzen ihrer Schwingen streift.
In dem Blau einer elektrischen Morgendämmerung sehen die Erdnußschalen farblos und verschrumpft aus. Dem Gestade des Montparnasse entlang beugen und brechen sich die Wasserrosen. Wenn Ebbe ist und nur ein paar syphilitische Nixen im Schlamm gestrandet zurückbleiben, sieht das Dôme wie eine von einem Wirbelwind heimgesuchte Schießbude aus. Alles verrinnt langsam im Abzugskanal. Etwa eine Stunde lang herrscht Totenstille, während der das Erbrochene aufgewischt wird. Plötzlich beginnen die Bäume zu zwitschern. Von einem Ende des Boulevards zum anderen erhebt sich ein Wahnsinnsgesang. Es ist wie das Zeichen, das den Börsenschluß ankündigt. Was für Hoffnungen es auch gab, sie werden weggefegt. Der Augenblick ist gekommen, die letzte Blase voll Urin auszuleeren. Der Tag kommt geschlichen wie ein Aussätziger …
Etwas, wovor man sich hüten muß, wenn man nachts arbeitet, ist, von seinem Stundenplan abzuweichen. Wenn man nicht ins Bett geht, bevor die Vögel zu zwitschern anfangen, braucht man überhaupt nicht mehr ins Bett zu gehen. Heute morgen besuchte ich, da ich nichts Besseres zu tun hatte, den Jardin des Plantes . Hier gibt es prächtige Pelikane aus Chapultepec und Pfauen mit prunkenden Rädern, die einen aus dummen Augen ansehen. Plötzlich begann es zu regnen.
Auf der Rückfahrt im Bus zum Montparnasse bemerkte ich mir gegenüber eine kleine Französin, die steif und aufrecht dasaß, als mache sie sich bereit, ihr Gefieder
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