Wendekreis des Krebses
Poren des Fleisches in hungrige, sehnende Münder verwandelt. An welchem Phantasiebild man hier auch vorbeigeht, es hat den Duft und den Ton einer Seereise. Unmöglich, auch nur ein Eckchen seiner Träume zu betrachten, ohne das Steigen der Woge und die Kühle sprühenden Gischtes zu spüren. Er steht am Ruder und späht mit seinen ruhigen blauen Augen in das Logbuch der Zeit. In welche ferne Winkel hat er nicht seinen langen, seitlich gerichteten Blick geworfen? Den mächtigen Vorsprung seiner Nase entlang blickend, hat er alles aufgenommen – die in den Pazifischen Ozean abstürzenden Kordilleren, die auf Pergament geschriebene Geschichte der Diaspora, die Fensterladen, auf denen das frou-frou der Brandung singt, das wie eine Muschelschale gekurvte Klavier, Blütenkronen, die Lichtmelodien verströmen, in der Buchpresse sich krümmende Chamäleone, Harems, die in Ozeanen von Staub verlöschen, Musik, die wie Feuer von der verborgenen Gasschicht des Schmerzes ausstrahlt, Korn und Koralle befruchten die Erde, Nabel speien ihren schimmernden Laich der Qual …
Er ist ein fröhlicher Weiser, ein tanzender Seher, der mit einem Pinselstrich das häßliche Blutgerüst austilgt, an das der Leib des Menschen durch die unabänderlichen Tatsachen des Lebens gekettet ist. Er ist es, wenn heute überhaupt ein Mensch die Gabe besitzt, der weiß, wo die menschliche Gestalt aufgelöst werden muß, der den Mut besitzt, eine harmonische Linie zu opfern, um das Murmeln und den Rhythmus des Blutes aufzudecken, der das Licht nimmt, das sich in ihm gebrochen hat und es über die Tastatur der Farbe fließen läßt. Hinter den Einzelheiten, dem Chaos, dem Blendwerk des Lebens entdeckt er das unsichtbare Muster. Er verkündet seine Entdeckung mit dem übersinnlichen Pigment des Raumes. Kein Suchen nach Formeln, keine Kreuzigung von Ideen, kein anderer Zwang als der, schöpferisch zu sein. Sogar wenn die Welt in Stücke geht, gibt es einen Menschen, der dem Wesentlichen treu bleibt, der fester und besser verankert seinen Stand behauptet, der zentrifugaler wird, je rascher der Auflösungsprozeß fortschreitet.
Mehr und mehr ähnelt die Welt dem Traum eines Entomologen. Die Erde verläßt ihre Bahn, ihre Achse hat sich verschoben. Vom Norden her weht der Schnee in riesigen stahlblauen Driften. Eine neue Eiszeit bricht an, die Quernähte schließen sich, und überall auf dem Getreidegürtel stirbt die fruchtbare Welt, wandelt sich in welke Brüste. Zoll um Zoll trocknen die Deltas aus, und die Flußbetten sind glatt wie Glas. Ein neuer Tag dämmert herauf, ein metallurgischer Tag, an dem die Welt von Güssen leuchtenden gelben Goldes klirren soll. Mit dem Sinken des Thermometers wird die Form der Welt verschwommen. Noch findet eine Osmose statt, und da und dort sind noch Gliederungen, aber an der Peripherie sind die Adern alle krampfig, die Lichtwellen krümmen sich, und die Sonne blutet wie ein zerrissener Mastdarm.
An der Nabe dieses zerfallenden Rades ist Matisse. Und er wird weiter voranrollen, bis alles, was nötig war, um dieses Rad zu schaffen, sich in seine Bestandteile aufgelöst hat. Er ist bereits über einen beträchtlichen Teil des Erdballs gerollt, über Persien, Indien und China, und wie ein Magnet hat er mikroskopische Teilchen von Kurdistan, Belutschistan, Timbuktu, Somaliland, Angkor und Tierra del Fuego an sich gezogen. Er hat die Odalisken mit Malachit und Jaspis behängt, ihr Fleisch mit tausend Augen, mit parfümierten, in Walsamen getauchten Augen verschleiert. Wo immer eine Brise weht, sind Brüste, die kühl sind wie Gelée, weiße Tauben flattern in den eisblauen Adern des Himalaja und paaren sich.
Die Tapete, mit der die Wissenschaftler die Welt der Wirklichkeit verkleistert haben, geht in Fetzen. Das große Freudenhaus, das sie aus dem Leben gemacht haben, braucht keine Dekoration. Es ist nur wichtig, daß die Kanalisation entsprechend funktioniert. Schönheit, die katzenhafte Schönheit, die uns in Amerika an die Hoden geht, ist dahin. Um die neue Wirklichkeit zu ermessen, ist es zuerst nötig, die Abflüsse abzubauen, die schwärenden Kanäle bloßzulegen, die das Genital-Urin-System bilden, das die Kunstausscheidungen liefert. Der Geruch des Tages ist der nach Permanganat und Formaldehyd. Die Abzugsröhren sind von erwürgten Embryos verstopft.
Die Welt von Matisse ist noch immer schön in der altmodischen Art eines Schlafzimmers. Da ist kein Kugellager zu sehen, keine Kochplatte, auch kein Kolben,
Weitere Kostenlose Bücher