Wendekreis des Krebses
ebensowenig ein Schraubenschlüssel. Es ist dieselbe alte Welt, die in den idyllischen Tagen des Weines und der Unzucht fröhlich ins Bois ging. Ich finde es köstlich und erfrischend, mich unter diesen Wesen mit ihren lebendigen, atmenden Poren zu bewegen, deren Hintergrund so echt und verbürgt ist wie das Licht selber. Ich empfinde es heftig, wenn ich über den Boulevard de la Madeleine gehe und die Huren neben mir rascheln und mich nur ein Blick auf sie erzittern läßt. Ist es darum, weil sie exotische Gewächse oder wohlgenährt sind? Nein, man findet auf dem Boulevard de la Madeleine selten eine schöne Frau. Aber bei Matisse ist in der Erforschung seines Pinsels der zitternde Schimmer einer Welt, die nur der Gegenwart des Weibes bedarf, um die flüchtigsten Sehnsüchte feste Form annehmen zu lassen. Einer Frau zu begegnen, die sich vor einem Pissoir anbietet, in dem Zigarettenpapier, Rum, akrobatische Darbietungen und Pferderennen angepriesen werden, wo das schwere Laub der Bäume die dichte Ballung von Mauern und Dächern durchbricht, ist ein Erlebnis, das dort beginnt, wo die Grenzen der bekannten Welt aufhören. Dann und wann gerate ich abends, wenn ich an den Friedhofsmauern entlangstreiche, an die Gespensterodalisken von Matisse, wie sie an den Bäumen festgebunden sind, ihre wirren Mähnen durchtränkt von Saft. Ein paar Fuß entfernt, durch unerrechenbare Äonen entrückt, liegt der lang hingestreckte und in Mumienbinden gehüllte Geist Baudelaires, einer ganzen Welt, die nie wieder einen Rülpser tun wird. In den dämmerigen Winkeln von Cafés sitzen Männer und Frauen Hand in Hand, mit von Flecken übersäten Lenden. Nahebei steht der garçon mit seiner Schürze voll Sous und wartet geduldig auf die Pause, um über seine Frau herzufallen und sich in sie hineinzubohren. Sogar während die Welt in Stücke zerfällt, erschaudert das Paris von Matisse mit fröhlichen, atemlosen Orgasmen, die Luft selbst ist mit trägem Samen geladen, die Bäume verflochten wie Haar. Auf seiner schwankenden Achse rollt das Rad ständig bergab. Es gibt keine Bremsen, keine Kugellager, keine Ballonreifen. Das Rad zerfällt, aber die Umdrehung geht weiter …
A us heiterem Himmel kommt eines Tages ein Brief von Boris, den ich seit Monaten und Monaten nicht mehr gesehen habe. Es ist ein seltsames Dokument, und ich gebe nicht vor, alles klar zu verstehen. «Zwischen uns ist – jedenfalls soweit es mich betrifft – das geschehen, daß Du mich berührt hast, meine Existenz berührt hast, heißt das, und zwar in einem Punkt, wo sie noch lebendig ist: meinem Tod. Aber der Strom der Gefühle verlieh meinem Dasein noch einmal Tiefe. Ich lebte wieder, war lebendig. Nicht mehr in Rückerinnerung, wie es mir bei den anderen ergeht, sondern war lebendig.»
So fing er an. Kein Wort des Grußes, kein Datum, keine Anschrift. In einem dünnen, schnörkeligen Gekritzel auf ein aus einem Notizbuch gerissenes, liniertes Blatt Papier geschrieben. «Darum, ob Du mich nun magst oder nicht – tief innen glaube ich, daß Du mich eher haßt –, bist Du mir sehr nahe. Durch Dich weiß ich, wie ich starb; ich sehe mich wieder sterben; ich liege im Sterben. Das ist etwas mehr, als einfach tot zu sein. Das mag der Grund sein, warum ich Angst habe, Dich zu sehen: Du könntest mir den Streich gespielt haben und gestorben sein. Die Dinge geschehen heutzutage so rasch.»
Ich lese das, Zeile für Zeile, und es läßt mich kalt. Es klingt für mich närrisch, dieses ganze Gewäsch von Leben und Tod und den Dingen, die so rasch geschehen. Soweit ich sehen kann, geschieht nichts, außer den üblichen Unglücksfällen auf der Titelseite. Er hat die letzten sechs Monate ganz allein gelebt, in einem billigen kleinen Zimmer vergraben – wobei er vermutlich telepathische Verbindung mit Cronstadt aufrechterhielt. Er spricht von der zurückweichenden Front, dem geräumten Abschnitt und so weiter und so weiter, so als wäre er in einem Schützengraben und schriebe einen Bericht ans Hauptquartier. Er hatte vermutlich seinen Gehrock an, als er sich hinsetzte, um seine Botschaft zu verfassen, und rieb sich vermutlich ein paarmal die Hände, wie er es zu tun pflegte, wenn ein Interessent kam, um die Wohnung zu mieten. «Der Grund, warum ich wollte, daß Du Selbstmord begehen solltest …» beginnt er wieder. Darüber breche ich in Lachen aus. Er pflegte in der Villa Borghese oder bei Cronstadt – wo immer eben Platz dazu war – hin und her zu gehen, die eine Hand
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