Wendekreis des Krebses
zu putzen. Sie saß auf dem Rand ihres Platzes, als fürchte sie, ihren prächtigen Schwanz zu zerknittern. Wundervoll, dachte ich, wenn sie sich plötzlich schütteln und aus ihrem derrière sich ein riesiger prunkender Fächer mit langen, seidigen Federn entfalten würde.
Im Café de l’Avenue, wo ich halt mache, um einen Bissen zu essen, versucht eine Frau mit dickem Bauch mich für ihren Zustand zu interessieren. Sie möchte gerne, daß ich mit ihr ein Zimmer nehme und ein paar Stunden mit ihr verbringe. Es ist das erste Mal, daß mir ein Angebot von einer Schwangeren gemacht wird. Ich bin fast versucht, es auszuprobieren. Sobald das Kind geboren und an die Behörden abgeliefert ist, sagt sie, nimmt sie wieder ihren alten Beruf auf. Sie macht Hüte. Als sie merkt, daß mein Interesse abnimmt, ergreift sie meine Hand und legt sie sich auf den Bauch. Ich fühle etwas darin sich regen. Damit vergeht mir die Lust.
Was die Vielfalt an sexuellem Angebot betrifft, habe ich noch nie einen Ort wie Paris gesehen. Sobald eine Frau einen Vorderzahn oder ein Auge oder ein Bein verliert, geht sie auf den Strich. In Amerika würde sie verhungern, wenn sie keine andere Empfehlung aufzuweisen hätte als eine Verstümmlung. Hier ist das anders. Ein fehlender Zahn oder eine weggefressene Nase oder eine Gebärmuttersenkung, jedes Unglück, das die natürliche Schlichtheit des Weibes betont, scheint als weitere Würze, als Anreiz für die erschöpften Sinne des Männchens angesehen zu werden.
Ich spreche natürlich von der Welt der Großstädte, der Welt der Männer und Frauen, denen der letzte Tropfen Saft von der Maschine ausgequetscht worden ist – den Märtyrern des modernen Fortschritts. Dieser Haufen von Knochen und Kragenknöpfen ist es, der für die Maler so schwierig mit Fleisch zu umkleiden ist.
Erst später, am Nachmittag, als ich mich in einer Kunstgalerie in der Rue de Sèze von Männern und Frauen von Matisse umgeben finde, bin ich wieder in den eigentlichen Bereich der Menschenwelt zurückversetzt. Auf der Schwelle dieses großen Ausstellungsraumes, dessen Wände jetzt in Farben lodern, bleibe ich einen Augenblick stehen, um mich von der Erschütterung zu erholen, die man empfindet, wenn das übliche Grau der Welt zerteilt ist und die Farbe des Lebens als Gesang und Gedicht aufleuchtet. Ich finde mich in einer so natürlichen, so vollkommenen Welt, daß ich mich nicht auskenne. Ich habe das Gefühl, in das wahre Geflecht des Lebens versunken zu sein, in seinem Brennpunkt zu stehen, ganz gleich, welchen Platz, welche Stellung oder Haltung ich einnehme. Verloren war ich wie einst, als ich im Schatten junger Mädchenblüte im Speisesaal jener riesigen Welt von Balbec saß, und mir zum erstenmal der tiefe Sinn jener inneren Stille aufging, die sich durch die Verbannung von Sicht- und Greifbarem äußert. Auf der Schwelle dieser Welt stehend, die Matisse geschaffen hat, erlebte ich wieder die Macht jener Offenbarung, die Proust erlaubt hatte, das Bild des Lebens so zu entstellen, daß nur die für Alchimie von Klang und Sinn Empfindsamen – wie er selbst – imstande sind, die negative Wirklichkeit des Lebens in die echten und bedeutsamen Umrisse der Kunst zu verwandeln. Nur die das Licht in sich einzulassen vermögen, können sich übersetzen, was dort im Herzen ist. Lebhaft rufe ich mir jetzt ins Gedächtnis zurück, wie das Glänzen und Blitzen des Lichtes von den schweren Kronleuchtern zersplitterte und in Blut zerrann, die Wogenkämme sprenkelnd, die monoton an das stumpfe Gold draußen vor den Fenstern schlugen. Am Strand verflochten sich Masten und Schlote, und wie ein rauchiger Schatten glitt die Gestalt Albertines durch die Brandung, löste sich in dem geheimnisvollen Fließen und dem Prisma eines Protoplasmareiches auf, ihren Schatten mit dem Traum und den Vorboten des Todes vereinend. Mit dem zuendegehenden Tag stieg Schmerz wie Nebel auf von der Erde, Trübsal brach herein und versperrte den endlosen Ausblick auf Meer und Himmel. Zwei wächserne Hände lagen schlaff auf dem Laken, und durch die blassen Adern wiederholte das sanfte Murmeln einer Muschel die Legende ihrer Geburt.
In jeder Komposition von Matisse ist die Geschichte eines Teilchens menschlichen Fleisches, das sich nicht von der tödlichen Vernichtung unterkriegen ließ. Jede Spanne Fleisch vom Haar bis zu den Fingernägeln drückt das Wunder des Atmens aus, als hätte das innere Auge in seinem Durst nach einer größeren Wirklichkeit die
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