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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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unter seinem Rockschoß, und nach Herzenslust diesen Unsinn vom Leben und Sterben herunterzuleiern. Ich verstand nie ein Wort davon, wie ich gestehen muß, aber ich saß artig da, und da ich Nichtjude bin, interessierte mich natürlich, was in dieser Menagerie von Hirnschale vor sich ging. Manchmal lag er der Länge nach ausgestreckt auf seinem Sofa, erschöpft von der Flut der Ideen, die durch seine Birne rauschten. Seine Füße reichten gerade an das Büchergestell heran, in dem er seinen Platon und seinen Spinoza aufbewahrte – er konnte nicht verstehen, warum ich nichts mit ihnen anzufangen wußte. Ich muß sagen, er verstand sie mir interessant zu machen, wenn ich auch nicht die leiseste Ahnung hatte, worum sich das Ganze drehte. Manchmal warf ich einen verstohlenen Blick in einen Band, um die tollen Ideen nachzuprüfen, die er ihnen unterschob – aber der gedankliche Zusammenhang war dünn und unbedeutend. Boris hatte seine eigene Art zu sprechen, solange ich mit ihm allein war. Wenn ich aber Cronstadt zuhörte, schien es mir, daß Boris seine wundervollen Ideen von ihm entlehnt hätte. Diese zwei redeten eine Art höhere Mathematik. Nichts von Fleisch und Blut war je darin. Es war unheimlich, gespenstisch, dämonisch abstrakt. Wenn sie aufs Sterben kamen, klang es ein wenig konkreter: schließlich muß ein Hackmesser oder ein Fleischerbeil einen Stiel haben. Ich genoß diese Sitzungen riesig. Zum erstenmal in meinem Leben erschien mir der Tod anziehend – alle diese abstrakten Tode, die eine Art blutlosen Todeskampfes mit sich brachten. Dann und wann beglückwünschten sie mich dazu, lebendig zu sein, aber in einer Art, daß ich verlegen wurde. Sie ließen mich fühlen, daß ich im 19. Jahrhundert lebte, als eine Art von atavistischem Überbleibsel, ein romantisches Bruchstück, ein seelenvoller pithecanthropus erectus . Besonders Boris schien einen großen Reiz daran zu finden, sich mit mir zu befassen: er wollte, daß ich leben sollte, damit er nach Herzenslust sterben konnte. Man hätte glauben mögen, die Millionen auf der Straße seien nichts als tote Kühe, wie er mich ansah und mit mir umging. Aber der Brief … ich vergesse den Brief …
    «An dem Abend bei Cronstadt, als Moldorf Gott wurde, wollte ich, daß Du Selbstmord begingest, weil ich mich Dir in diesem Augenblick sehr nahe fühlte. Vielleicht näher, als ich es je wieder sein werde. Und ich hatte Angst, schreckliche Angst, daß Du mich eines Tages hintergehen könntest und unter meinen Händen sterben würdest. Und dann säße ich einfach auf dem trockenen mit meiner Vorstellung von Dir und hätte nichts, sie aufrecht zu erhalten. Das hätte ich Dir nie verziehen.»
    Vielleicht könnt ihr ihn euch vorstellen, wie er so etwas sagt! Mir selbst ist nicht klar, wie seine Vorstellung von mir aussah, oder jedenfalls ist klar, daß ich für ihn eine reine Idee war, eine Idee, die sich ohne Nahrung am Leben erhielt. Er, Boris, maß dem Nahrungsproblem nie viel Bedeutung bei. Er versuchte, mich mit Ideen zu ernähren. Alles war Idee. Trotzdem, als er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Wohnung zu vermieten, vergaß er nicht, in der Toilette eine neue Spülung anbringen zu lassen. Jedenfalls wollte er nicht, daß ich unter seinen Händen starb. «Du mußt bis zu allerletzt für mich das Leben sein», schreibt er. «Nur so kannst Du meine Vorstellung von Dir bekräftigen. Da Du, wie Du siehst, mit etwas für mich so Lebenswichtigem verknüpft bist, glaube ich nicht, daß ich Dich jemals abschütteln werde. Ich will das auch gar nicht. Ich möchte, daß Du mit jedem Tag, wo ich tot bin, lebendiger lebst. Darum schäme ich mich ein wenig, wenn ich zu anderen über Dich spreche. Es ist schwer, von sich selbst so vertraulich zu sprechen.»
    Man möchte vielleicht meinen, daß er mich gern gesehen oder gern gewußt hätte, was ich trieb – aber nein, keine konkrete oder persönliche Zeile, außer in dieser Leben-und-Sterben-Sprache, nichts als diese kleine Botschaft aus dem Schützengraben, dieser Hauch von Giftgas, um alle und jeden wissen zu lassen, daß der Krieg noch weiter ging. Ich frage mich manchmal, wie es kommt, daß ich nur auf Verrückte, Neurastheniker, Neurotiker, Psychopathen – und besonders Juden anziehend wirke. Es muß einem gesunden Nichtjuden etwas anhaften, was den jüdischen Geist aufregt, so wie wenn er gesäuertes Schwarzbrot sieht. Zum Beispiel Moldorf, der sich, laut Boris und Cronstadt, zum Gott erhoben hatte. Er haßte mich

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