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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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Besitzer schien auch nicht alle seine fünf Sinne beisammen zu haben. Ich beschloß, bis zum Abend zu warten, mich gut umzusehen und dann eine nette kleine Bude in einer ruhigen Seitenstraße zu wählen. Für das Abendessen gab ich fünfzehn Francs aus, etwa doppelt soviel, wie ich mir ursprünglich hatte genehmigen wollen. Das bedrückte mich so, daß ich mir nicht gestatten wollte, mich zu einem Kaffee hinzusetzen, obwohl es begonnen hatte, zu nieseln. Nein, ich würde ein wenig herumbummeln und dann frühzeitig still zu Bett gehen. Ich fühlte mich bereits elend bei dem Versuch, so mit meinen Mitteln hauszuhalten. Ich hatte das nie in meinem Leben getan; es lag nicht in meiner Natur.
    Schließlich begann es mit Kübeln zu gießen. Ich freute mich. So hatte ich die nötige Entschuldigung, irgendwo einzukehren und die Beine unter den Tisch zu strecken. Es war noch zu früh, um ins Bett zu gehen. Ich begann meine Schritte zu beschleunigen und ging zurück zum Boulevard Raspail. Plötzlich kommt eine Frau auf mich zu und hält mich mitten in dem Regenguß an. Sie will wissen, wie spät es ist. Ich sage ihr, daß ich keine Uhr hätte. Und dann sprudelt sie ganz einfach heraus: «Ach, mein lieber Herr, sprechen Sie zufällig englisch?» Ich nicke mit dem Kopf. Es gießt jetzt in Strömen. «Vielleicht, mein lieber, guter Herr, könnten Sie so liebenswürdig sein und mich in ein Café einladen? Es regnet so, und ich habe kein Geld, mich irgendwo hinzusetzen. Verzeihen Sie mir, lieber Herr, aber Sie haben ein so gütiges Gesicht … Ich wußte sofort, daß Sie Engländer sind.» Und damit lächelt sie mich mit einem ganz seltsamen, halb verrückten Lächeln an. «Vielleicht könnten Sie mir einen kleinen Rat geben, lieber Herr. Ich stehe ganz allein in der Welt … mein Gott, es ist schrecklich, kein Geld zu haben …»
    Dieses ‹lieber Herr› und ‹guter Herr› und ‹mein guter Mann› usw. brachte mich fast an den Rand der Hysterie. Sie tat mir leid, und doch mußte ich lachen. Ich lachte. Ich lachte ihr mitten ins Gesicht. Und dann lachte auch sie, ein unheimliches, schrilles, mißtönendes Gelächter, ein völlig unerwartetes Gewieher. Ich nahm sie beim Arm, und wir rannten in das nächste Café. Sie kicherte noch, als wir das bistro betraten. «Mein lieber, guter Herr», begann sie erneut, «Sie glauben vielleicht, ich sage Ihnen nicht die Wahrheit. Ich bin ein anständiges Mädchen, komme aus einer guten Familie. Nur» – und hier zeigte sie wieder dieses verstörte, zerbrochene Lächeln – «nur bin ich so unglücklich dran, daß ich nicht weiß, wo ich bleiben soll.» Das brachte mich wieder zum Lachen. Ich konnte nicht anders – die Worte, die sie sagte, der fremde Akzent, der verrückte Hut, den sie aufhatte, dieses närrische Lächeln …
    «Sagen Sie», unterbrach ich sie, «was für eine Landsmännin sind Sie?»
    «Ich bin Engländerin», gab sie zur Antwort. «Das heißt, ich wurde in Polen geboren, aber mein Vater ist Ire.»
    «Und da sind Sie Engländerin?»
    «Ja», sagte sie und begann wieder einfältig – und um sich den Anschein der Züchtigkeit zu geben – zu kichern.
    «Ich nehme an, Sie kennen ein nettes, kleines Hotel, wo Sie mich hinführen können?» Das sagte ich nicht, weil ich die Absicht hatte, mit ihr zu gehen, sondern nur, um ihr die üblichen Präliminarien zu ersparen.
    «Ach, mein lieber Herr», sagte sie, als hätte ich den schwersten Irrtum begangen, «ich bin sicher, Sie meinen das nicht im Ernst. Ich gehöre nicht zu der Sorte Frauen. Sie scherzen mit mir, das sehe ich. Sie sind so gut … Sie haben ein so gütiges Gesicht. Ich würde nicht wagen, so zu einem Franzosen zu sprechen wie zu Ihnen. Sie beleidigen einen auf der Stelle …»
    Sie fuhr eine Zeitlang in dieser Tonart fort. Ich versuchte von ihr loszukommen. Aber sie wollte nicht allein gelassen werden. Sie habe Angst – ihre Papiere seien nicht in Ordnung. Würde ich wohl so gut sein und sie zu ihrem Hotel bringen? Vielleicht könnte ich ihr fünfzehn oder zwanzig Francs ‹leihen›, um ihren patron zu beschwichtigen? Ich brachte sie zu dem Hotel, von dem sie sagte, daß sie dort wohne, und schob ihr einen Fünfzigfrancsschein in die Hand. Entweder war sie sehr gerissen oder sehr unschuldig – das ist manchmal schwer zu sagen –, aber jedenfalls wollte sie, daß ich warten sollte, bis sie zum Wechseln in das bistro gelaufen war. Ich sagte ihr, sie sollte sich keine Mühe machen. Und daraufhin ergriff sie

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