Wendekreis des Krebses
er. «Du kriegst noch die Nase voll, ehe du wegfährst. Sag ihr, sie soll hier auf dich warten, bis wir zurückkommen.»
Sie war ein wenig ärgerlich darüber, aber als wir ihr sagten, daß wir mehrere Tage vor uns hätten, wurde sie wieder heiter. Draußen ergriff uns Fillmore sehr feierlich am Arm und erklärte, er habe ein kleines Geständnis zu machen. Er sah blaß und besorgt aus.
«Na, was gibt’s?» sagte Collins munter. «Heraus damit!»
Fillmore brachte es einfach nicht alles auf einmal über die Lippen. Er stockte, stammelte und sprudelte endlich heraus: «Als ich gerade vor einer Minute auf den Lokus ging, bemerkte ich etwas …»
«Also du hast ihn geschnappt!» sagte Collins triumphierend, und damit zückte er die Flasche Vénétienne. «Geh zu keinem Arzt», fügte er boshaft hinzu. «Sie nehmen dich bis zum letzten aus, diese geldgierigen Schwindler. Und hör auch nicht zu trinken auf. Das ist alles Quatsch. Nimm zweimal am Tag davon, vor Gebrauch gut schütteln. Und nichts ist schlimmer, als sich zu beunruhigen, verstehst du? Komm jetzt mit. Ich gebe dir eine Spritze und etwas Permanganat, wenn wir zurückkommen.»
So brachen wir auf in die Nacht, ins Hafenviertel hinunter, wo Musik, Geschrei und betrunkene Flüche zu hören waren, wobei Collins die ganze Zeit ruhig über dies und jenes plauderte, über einen Jungen, in den er sich verliebt hatte, und die üble Klemme, in die er geraten war, als die Eltern es erfuhren. Von da kam er wieder auf den Baron de Charlus zurück und dann auf Kurtz, der den Fluß hinaufgefahren und verschollen war. Das war sein Lieblingsthema. Es gefiel mir, wie Collins sich dauernd vor diesem literarischen Hintergrund bewegte. Es war wie bei einem Millionär, der nie aus seinem Rolls-Royce ausstieg. Phantasie und Wirklichkeit waren für ihn ein Reich. Als wir das Puff am Quai Voltaire betraten, paddelte er noch immer – nachdem er sich auf den Diwan geworfen und nach Mädchen und Getränken geläutet hatte – mit Kurtz den Fluß hinauf, und erst nachdem die Mädchen sich neben ihn aufs Bett gesetzt und ihm den Mund mit Küssen geschlossen hatten, hörte er mit seinen Abschweifungen auf. Dann, als wäre er sich plötzlich bewußt geworden, wo er war, wandte er sich an die Puffmutter und hielt ihr einen beredten Vortrag über seine zwei Freunde, die eigens von Paris hergekommen waren, um ihre Spelunke zu sehen. Es gab etwa ein halbes Dutzend Mädchen in dem Raum, alle nackt und alle schön anzusehen, muß ich sagen. Sie hüpften wie die Vögel herum, während wir drei eine Unterhaltung mit der Alten aufrechtzuerhalten versuchten. Schließlich entschuldigte sie sich und sagte, wir sollten es uns bequem machen. Ich war ganz entzückt von ihr, so angenehm und liebenswürdig, so gütig und mütterlich war sie. Und was für Umgangsformen! Wäre sie ein wenig jünger gewesen, ich hätte ihr einen Antrag gemacht. Jedenfalls hätte man nicht geglaubt, daß wir uns in einer ‹Lasterhöhle› befanden, wie man so sagt.
Wir blieben ungefähr eine Stunde, und da ich als einziger in der Verfassung war, die Vorzüge des Hauses zu genießen, blieben Collins und Fillmore unten und plauderten mit den Mädchen. Als ich zurückkam, fand ich die beiden ausgestreckt auf dem Bett liegen. Die Mädchen hatten einen Halbkreis um das Bett gebildet und sangen mit den engelhaftesten Stimmen im Chor: Rosen in der Picardie . Wir waren sentimental deprimiert, als wir das Haus verließen, besonders Fillmore. Collins steuerte uns rasch in ein verrufenes Lokal, das mit betrunkenen Matrosen auf Landurlaub vollgestopft war, und dort saßen wir eine Weile und sahen uns das homosexuelle Treiben an, das voll im Schwung war. Als wir aufbrachen, mußten wir durch den Rote-Licht-Bezirk, wo noch mehr Großmütter mit Halstüchern auf den Türstufen saßen, sich fächelten und den Vorübergehenden freundlich zunickten. Alle so freundlich aussehende, gütige Seelen, als ob sie einen Kindergarten betreuten. Kleine Gruppen von Matrosen kamen angeschwankt und drängten sich lärmend in die grellen Buden. Überall Sex: er brandete über, eine Flut, die die Pfeiler unter der Stadt wegspülte. Wir bummelten am Rande des Innenhafens entlang, wo alles ein Gewirr und ein Durcheinander war. Wir hatten den Eindruck, als seien alle diese Schiffe, diese Schlepper, Jachten, Schoner und Barken von einem heftigen Sturm an Land geworfen worden.
Im Verlauf von achtundvierzig Stunden waren so viele Dinge passiert, daß es uns
Weitere Kostenlose Bücher