Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Rucksack passt, dachte sie. Sie öffnete den ziemlich verschlissenen Rucksack, den sie einst wochenlang durch die Wälder Britisch - Kolumbiens geschleppt hatte, und zog den kleinen ledernen Medizinbeutel heraus, der ihr von Silver Bear zum Abschied geschenkt worden war. Sie schüttete seinen Inhalt aufs Bett und betrachtete ihn einen Moment: Rosenquarz, Adlerfeder und die kleine geschnitzte Wolfsfigur. Der Wolf war nun nicht mehr ihr Krafttier. Vielleicht sollte ich jemanden suchen, der mir einen kleinen Bären schnitzt, überlegte sie. Sie legte ihren kleinen Schatz wieder in den Medizinbeutel zurück und befestigte ihn am Gürtel ihrer Jeans. Auch wenn die Skeptiker Recht haben, dachte sie, und Schamanismus bloß Einbildung und Wunschdenken ist, mit einer Kraft ist dieser Medizinbeutel ganz bestimmt aufgeladen: der Kraft der Liebe und der schönen Erinnerungen.
Chris ging nach draußen in den Park. Ahriman kam ihr schwanzwedelnd entgegen. Sie kraulte ihm den Kopf und steuerte dann auf die Villa zu. Als Chris vor dem Eingang stehen blieb, zu den Fensterrosetten und den beiden gotischen Türmen hochblickte, kam ihr das Haus gewaltiger denn je vor. War es nicht ziemlich vermessen, dass Leute sich solche Häuser bauten? Aber die verspielte Fassade faszinierte sie trotzdem. Roland Vandenbergs Urgroßvater hatte ganz offensichtlich Phantasie und einen geradezu kindlichen Spieltrieb besessen.
Sie öffnete die große Jugendstiltür, in die bunte Glasscheiben und Blumenornamente eingelassen waren, und schaute staunend in eine kathedralenhafte Eingangshalle. Die Strahlen der schon tief stehenden Sonne fielen durch die Fensterrosetten und erzeugten ein träumerisches Licht. Eine elegant geschwungene Marmortreppe führte von der Halle in die oberen Stockwerke.
Ahriman blieb draußen auf den breiten Eingangsstufen sitzen. »Was ist?«, fragte Chris und hielt ihm die Tür auf. »Kommst du nicht mit rein?« Doch der Hund rührte sich nicht. Sie ging ein Stück in die Halle, um die Rosetten von innen sehen zu können. Beim Besuch einer Kirche war das für Chris der schönste Moment - wenn man hereinkam und die Fenster leuchten sah. Sie hielt verzaubert inne. Es waren wirklich wunderschöne Fenster, die jeder Kathedrale zur Ehre gereicht hätten.
Heike kam durch eine Schwingtür. In dieser riesigen Kulisse wirkte sie sehr klein und zerbrechlich. »Da bist du ja«, sagte sie und umarmte Chris. »Darf der Hund nicht hinein?«
»Doch, eigentlich schon«, sagte Heike. »Aber er will nicht mehr.«
»Will nicht mehr?«, fragte Chris erstaunt.
»Er hält sich tagsüber in letzter Zeit immer draußen auf. Aber gestern Abend wollte er auch zum Schlafen nicht ins Haus. Ich musste ihn am Halsband hereinschleifen. Dabei ist es nachts draußen noch viel zu kalt. Was meinst du, ob er krank ist?«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Chris nachdenklich. »Er wirkt doch ganz lebhaft.« Als sie Heike durch die Schwingtür in einen langen Flur folgte, spürte sie ein Unbehagen, das sie sich nicht erklären konnte. Das Haus war ziemlich riesig und protzig, aber durchaus schön - ästhetisch ansprechend. Trotzdem hatte Chris das deutliche Gefühl, dass sie lieber draußen im Freien geblieben wäre. Wie der Hund.
Heike führte sie durch die geschmackvoll eingerichtete Villa. »Und ihr beiden wohnt hier wirklich ganz allein?«, fragte Chris.
Heike nickte. »Ich hätte gerne Kinder. Dann käme Leben in das Haus. Aber Roland will nicht. Jedenfalls noch nicht. Na ja, ich denke, früher oder später lässt er sich überreden.«
Chris fand es erstaunlich, dass Heikes Mann keine Kinder wollte. Als Erbe eines solchen traditionsreichen Namens hätte er doch eigentlich Familiensinn besitzen müssen. »Hat er Geschwister?«, fragte sie.
»Zwei ältere Schwestern, die beide gutsituiert verheiratet sind, die eine in Aachen, die andere in Bonn. Sein jüngerer Bruder ist mit sechzehn an einem Gehirntumor gestorben.«
»Oh.«
»Rolands Eltern sind auch beide tot. Seine Mutter ist mit Anfang fünfzig an Krebs gestorben. Und sein Vetter hatte vor drei Jahren einen tödlichen Herzinfarkt. Corinna - das ist eine Frau aus meinem esoterischen Kaffeekränzchen - meint, die Krebserkrankungen hätten etwas mit der Energie des Hauses zu tun. Das Haus steht angeblich auf einem Kraftort und wenn man die überschüssige Energie nicht schöpferisch umsetzt, setzt sie sich im Körper fest und erzeugt Krebs. Rolands Mutter war eigentlich Sängerin, aber sie hat die
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