Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
für unsere weltlichen Verpflichtungen zu geben, nicht, damit wir uns aus der Welt zurückziehen.« O Gott, ich klinge wie ein wandelnder Katechismus, dachte Scharenbroich. Ich sollte einfach den Mund halten. Es gibt ohnehin nichts Passendes, das ich sagen könnte. Vielleicht verdient Martin es einfach, in Ruhe gelassen zu werden.
»Und was ist, wenn die Welt sich von uns zurückzieht?«, fragte Martin. Die Art, wie er das sagte, jagte Scharenbroich einen Schauder über den Rücken, ohne dass er es sich erklären konnte.
Plötzlich lachte Martin, aber es war ein verkrampftes, fast hysterisches Lachen ohne jede Freude. »Kommen Sie mit in mein Schlafzimmer, Herr Dechant, nein, Probst muss ich jetzt ja wohl sagen! Sie suchen an der falschen Stelle. Na los, kommen Sie! Ich habe der Kommissarin versprochen, ihr das Buch zu geben, aber was macht das schon aus? Es spielt überhaupt keine Rolle.«
Martin stieß die Tür zum Nebenzimmer weit auf und verschwand aus Scharenbroichs Blickfeld. »Kommen Sie rein!« Scharenbroich näherte sich zögernd. Widerstrebend blieb er im Türrahmen stehen und schaute in das Zimmer. Zu seiner Überraschung war es im Gegensatz zum Wohnzimmer sehr leer und aufgeräumt. Es gab nur ein altes Bett und einen Kleiderschrank. Die Wände waren in einem sonderbaren Blauton gestrichen, der eine düstere Atmosphäre erzeugte. Gegenüber dem Fußende des Bettes hing ein riesiges, golden angemaltes Holzkreuz an der Wand, das von der einzigen Lampe angestrahlt wurde. In seiner Größe und mit dieser Beleuchtung erschien es Scharenbroich deplaziert und geschmacklos. Die Rollläden waren heruntergelassen. »Gefällt es Ihnen?«, fragte Martin. »In diesem Zimmer sollte nichts sein als die göttliche Liebe. Hier haben Josef und ich viele Nächte verbracht. Und der Nachtpförtner hat nichts bemerkt. Ich habe Josef immer durch den Keller geschmuggelt.«
Neben dem Kreuz hing ein Bild, das Einzige an den ansonsten kahlen Wänden. Eine vergrößerte Fotografie, auf der zwei nackte Männer zu sehen waren, eng aneinandergeschmiegt Martin und Josef. Scharenbroich schloss einen Moment die Augen.
Martin kniete nieder und zog einen Koffer unter dem Bett hervor. Er öffnete ihn, nahm ein großes Buch heraus und gab es Scharenbroich. Es war so groß und schwer, dass er es mit beiden Händen halten musste - ein in von der Zeit gegerbtes Leder gebundener Foliant. Das Siegel des Metropolitenkapitels, das ihn verschlossen hatte, war gebrochen. Martin wühlte in seiner Hosentasche, zog einen schlichten Schlüssel hervor und legte ihn oben auf das Buch. »Ich will es nicht mehr«, sagte er. »Gehen Sie jetzt. Lassen Sie mich mit Gott allein.«
Das Geheime Zunftbuch zog an Scharenbroichs Armen wie eine Zentnerlast. Dennoch war er erleichtert. Er würde sich mit Ermekeil besprechen. Er würde den künftigen Dechanten zu seinem Vertrauten machen. Ermekeil war ein ruhiger, vernünftiger Mann. Gemeinsam würden sie im Interesse des Doms eine Lösung für dieses Problem finden. Ermekeil hatte vorgeschlagen, sich direkt an Oberstaatsanwalt Herkenrath zu wenden, einen der Kirche wohlgesonnenen Mann. Schließlich hatte das Domkapitel der Stadt Köln es nicht nötig, sich mit unteren Diensträngen bei der Polizei abzugeben. Ein wirklich guter Vorschlag.
Mit einem Berater wie Ermekeil an seiner Seite fühlte sich Scharenbroich seiner neuen Aufgabe gewachsen. Er atmete tief durch und streckte die Brust heraus. Martins Gegenwart war ihm plötzlich mehr als unangenehm. Ohne ihn noch einmal anzusehen und ohne ein weiteres Wort verließ er rasch dessen Wohnung.
Nach einer unbequemen Fahrt in der zum Bersten gefüllten U-Bahn duschte Susanne. Es tat gut, das Wasser über ihren Körper rieseln zu lassen. Ihre Hand schmerzte noch immer. Vielleicht will ich mich ja von der Brutalität rein waschen, mit der ich auf Hatheyer eingedroschen habe, dachte sie.
Als sie sich gerade abtrocknete, klingelte das Telefon. Sie zog ihren Bademantel über, ging ins Wohnzimmer und meldete sich. Es war Chris.
»Du rätst nie, wo ich gerade bin.« Chris klang überraschend fröhlich. Ihre Stimme zu hören besserte Susannes Laune zwar etwas, aber nicht so sehr, dass sie Lust auf alberne Ratespiele gehabt hätte.
»Keine Ahnung«, sagte sie etwas knurrig.
«Im Gästehaus von Roland Vandenberg. Ich gucke gerade aus dem Fenster auf die verrückteste Villa, die ich je gesehen habe. Wie aus dem Märchen.«
Susanne konnte diese Information nicht sofort
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