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Wendland & Adrian 02 - Die Krypta

Wendland & Adrian 02 - Die Krypta

Titel: Wendland & Adrian 02 - Die Krypta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Görden
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und lehnte sich mit dem Rücken an. Hilf mir, alter Stein, dachte sie. Langsam ging Chris einmal im Uhrzeigersinn um den Stein herum und legte dann ihre Stirn und die Handflächen dagegen. Seine feuchte Kühle schien durch die Haut in ihren Körper einzudringen. Sie versuchte das Land unter ihren Füßen zu spüren. Hier oben hatte sie ihre Vision empfangen. Die Vision, in der ihr gesagt worden war, es sei ihre Bestimmung Hüterin des Landes zu sein, das man von diesem Hügel überblicken konnte.
    Lange Zeit war der Wolf ihr Krafttier gewesen, doch jetzt hatte er sie verlassen. Die Qualität der Kraft, die Chris in sich spürte, veränderte sich in letzter Zeit. Eine große Bärin wartete offenbar darauf, den Platz des Wolfs einzunehmen. Nachts im Traum, oder wenn Chris die Augen schloss, sah sie diese Bärin häufig. Bären waren scheu. Die Bärin schien sich immer in sicherem Abstand zu halten, gerade noch in Chris' Sichtweite, ganz am Rand ihres Bewusstseins. Ich werde selber zur Bärin, dachte Chris - dick, rund und massiv. Das Temperament des Bären war einerseits aufbrausend und jähzornig, andererseits sanft und feinfühlig. Und die Kraft des Bären war unerschöpflich. Bei den Indianern galt die Bärenkraft als die Kraft der Heilerinnen und Heiler. Der Bär kannte alle heilenden Kräuter und führte den Schamanen dorthin, wo er gebraucht wurde.
    »Dann komm endlich her, Bärin«, sagte Chris leise. »Ich spüre doch schon seit Tagen, dass du in meiner Nähe bist.«
    Das Sonnenlicht zwischen den dunklen Regenwolken sah golden aus. Die Baumwipfel strahlten. Chris begann sich wie eine Bärin zu bewegen, oder wie sie sich vorstellte, dass eine Bärin sich bewegen würde. Breitbeinig stand sie da und wiegte den Oberkörper hin und her. Dann vollführte sie einen schwerfällig stampfenden Bärentanz. Bären wirkten oft plump und tolpatschig, verfügten aber in Wirklichkeit über große Wachheit und Beweglichkeit. Wenn eine Bärin angriff, um ihr Junges zu schützen, gab es kein Entrinnen. »Komm, Bärin«, sagte Chris leise, lockend.
    Die Bärin war ganz nah, das spürte Chris deutlich. Ihre Sinneswahrnehmungen wurden plötzlich sehr intensiv. Chris roch und hörte jetzt wie ein wildes Tier. Sie hatte das Gefühl zu wachsen, größer und breiter zu werden. Sie und die Bärin verschmolzen für einen
    Moment zu einem großen, aufrecht auf den Hinterbeinen stehenden Wesen, das sich wachsam umschaute und in den Wind schnüffelte.
    »Was soll ich tun, Bärin?«, fragte Chris. »Ich glaube, ich habe als Hüterin des Landes versagt. Das Land spricht nicht mehr mit mir. Im Moment weiß ich nicht, wie ich meine Bestimmung als Schamanin erfüllen soll. Und ich will Jonas auf keinen Fall verlieren! Was kann ich tun, um unsere Liebe zu heilen? Ich will, dass er mich wieder so liebt wie vor einem Jahr. Oder noch vor einem halben Jahr.«
    Chris spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Das Gefühl, von der Bärenkraft durchdrungen zu sein, wurde schwächer. Die Bärin, ihr neues Krafttier, schien sich von ihr zu entfernen. Chris schloss die Augen und sah Jonas. Er stand vor dem Forsthaus, drehte sich zu ihr um und lächelte. Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Vielleicht würde alles wieder gut werden.
    Die Bärin war verschwunden und ohne die Bärenkraft fühlte Chris sich körperlich ein wenig schlapp Aber Jonas hatte ihr zugelächelt - das schien, alles in allem, doch ein gutes Zeichen zu sein! »Danke, Bärin«, sagte sie leise und machte sich auf den Rückweg, sich merklich leichter ums Herz fühlend. Im Park blieb sie einen Moment bei Fred Schmitz stehen, dem Tierpfleger. Er war gerade dabei, den Zaun an der Fischotteranlage zu reparieren. Die Fischotter hatten sich in ihren künstlichen Bau geflüchtet. »Hab dich gestern im Fernsehen gesehen«, sagte er. Fred war ein wortkarger Eifler, knorrig aber gutmütig.
    »Und?«, fragte Chris.
    Er grinste. »Na ja, ich würde sagen, du hast keinen an der Murmel. Aber ich hoffe, die Typen bei der Kreisverwaltung finden das auch.«
    Natürlich wollte sie gerne weiter im Park arbeiten. Mit Fred und den beiden anderen Tierpflegern kam sie gut klar. Sie versuchte sich auf Jonas' Lächeln aus der Vision eben zu konzentrieren, aber der Eindruck verblasste bereits. Es war ein gutes Signal, es musste ein gutes Signal gewesen sein. Bestimmt würde Jonas sie heute Nachmittag, wenn er vom Dienst kam, anlächeln, zum ersten Mal seit Tagen, und sie in den Arm nehmen. Und sie würden

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