Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
eine wirklich gute Nacht zusammen verbringen.
Sie setzte sich ins Büro über der Futterküche und ging die Bestellungen durch, gab sie dann telefonisch weiter. Sie spielte mit dem Gedanken Jonas auf der Buchfelder Polizeiwache anzurufen und ihm zu sagen, wie gern sie ihn hatte, ließ es dann aber doch. Heute Abend würde sie es ihm sagen. Normalerweise blieb sie mittags im Park und aß nur eine Kleinigkeit. Aber heute knurrte ihr Magen so sehr, dass sie ausnahmsweise entschied sich drüben im Forsthaus etwas aus dem Kühlschrank aufzuwärmen. Als Chris vom Park hinüberging, sah sie Jonas' weißen Kombi vor dem Haus parken. Das wunderte sie, denn wenn er Tagdienst hatte, kam er normalerweise mittags nicht nach Hause.
»Jonas?«, rief sie, als sie durch die Hintertür hereinkam und sich die Schuhe auszog. Er antwortete nicht. Dann hörte sie, dass er im Schlafzimmer herumhantierte. »Jonas?«, fragte sie noch einmal. »Was machst du denn da oben?«
Er kam ihr auf der Treppe entgegen, in der Hand eine Reisetasche und über der Schulter seine große Sporttasche, beide Taschen prall gefüllt mit Kleidung, die er offenbar hastig hineingestopft hatte.
»Mist«, sagte er leise und vermied es, Chris in die Augen zu sehen. »Ich dachte, du bist im Park. Ich wollte ... Da ist ein Brief, den ich für dich dagelassen habe. Liegt in der Küche auf dem Tisch.«
Chris' Herz rutschte ganz tief hinunter in ihren Bauch. »Was denn für ein Brief?«, fragte sie. Sie spürte, dass sich in ihrem Hals ein dicker Kloß bildete, der sie am Sprechen hindern wollte.
Da er nicht an Chris vorbei konnte, blieb Jonas auf der halben Treppe stehen. Er lehnte sich verkrampft mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich gehe für eine Weile nach Buchfeld«, sagte er. »In dem Haus, das ich von meinen Eltern geerbt habe, steht im Moment die untere Wohnung leer. Das weißt du ja.«
Chris versuchte verzweifelt das, was sie da gerade sah und hörte, mit der Vision in Einklang zu bringen, die sie vorhin auf dem Hügel gehabt hatte. Jonas hatte ihr vergnügt zugelächelt ... Aber jetzt war auch nicht die Spur eines Lächelns auf seinem Gesicht. Er sah so aus, als ob er nie wieder lächeln würde.
»Tut mir Leid«, brachte er mühsam heraus. Die Treppe und Jonas' Gesicht verschwammen in Tränen.
Und Chris wurde wütend. »Aber ... warum?«, rief sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Du ... du kannst doch nicht einfach so abhauen. Ich ...« Sie suchte nach Worten, aber ihre Gedanken waren wie Watte. »Ich ... liebe dich.« Mehr brachte sie nicht heraus. Sie wandte sich rasch ab und starrte in die Küche, zum Fenster.
Verschwommen sah sie die Obstbäume draußen auf der Wiese, wo sie und Jonas gemeinsam Äpfel und Pflaumen gepflückt hatten. Damals hatten sie gelacht und waren zusammen fröhlich gewesen. Sie wollte nicht, dass er die Tränen sah, die ihr über die Wangen liefen.
Sie spürte, wie er an ihr vorbeiging. An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Glaub mir, es ist besser«, sagte er. Seine Stimme zitterte. Immerhin. Es tat ihm so weh wie ihr.
»Du musst deinen Weg als Schamanin gehen. Du musst versuchen zu dir selbst zu finden. Ich bin dir dabei nur hinderlich. Ich finde keinen Zugang zu deiner Welt. Und ... und immer steht dieser alte Indianer zwischen uns!«
Rasch drehte er sich um, riss die Haustür auf und ging zum Wagen. Chris stürzte hinter ihm her, blieb dann aber schwer atmend im Eingang stehen. Er warf die Taschen in den Kofferraum.
»Den Rest komm ich die Tage mal holen«, rief er noch, sprang hinters Lenkrad und fuhr davon. Chris stolperte in die Küche. Die Watte schien jetzt nicht nur in ihrem Kopf, sondern auch in ihren Beinen zu sein.
Der Brief lag zusammengefaltet auf dem Tisch. Ein gewaltiges Gefühl explodierte in ihrem Magen und bahnte sich von dort den Weg nach oben. Zorn. Traurigkeit. Verzweiflung. Alles auf einmal. Unerschütterliche, jeder Lebenslage gewachsene Schamanin, der ihr Krafttier und ihre sichere Verbindung zur Geisterwelt Mut und Stärke verleihen ... Nichts von alledem. Fluchend packte sie den Brief, riss ihn ungelesen in Stücke. Einen Augenblick später saß sie schluchzend auf dem Boden und puzzelte die Fetzen mühsam wieder zusammen.
Das Domkapitel hatte nach dem Tod des Propstes alle Führungen in die Bischofskrypta untersagt. Sie blieb für Besucher geschlossen. Nach Osters Tod hatte das Kapitel noch sechs Mitglieder. Vier von ihnen stiegen ungefähr zur selben Zeit, als Chris Adrian in der Eifel
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