Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
waren still und in sich gekehrt. Das waren für Heiko die Sympathischeren. Viele von ihnen strahlten eine ruhige Würde aus. Man musste erst ihr Vertrauen gewinnen, ehe sie zu erzählen begannen. Zumeist waren es düstere Geschichten von Missbrauch und Gewalt. Dann waren da noch die, die bereits so erloschen waren, dass sie überhaupt nicht mehr redeten oder nur zusammenhanglos vor sich hin stammelten. Bei ihnen konnte Heiko die Lebensgeschichten nur aus den Gesichtern lesen.
Karla hatte ihn sofort fasziniert. Sie war anhänglich wie ein kleines Kind und schien sich über jede Art der Zuwendung zu freuen, auch wenn sie kaum sprach. »Wir glauben, dass sie Zeugin eines Verbrechens geworden ist«, hatte Kommissar Tönsdorf gesagt. »Wenn sie irgendwas Auffallendes erzählt, gebt mir bitte Bescheid.«
Während der ersten beiden Tage war Karla sehr passiv gewesen. Sie sagte praktisch kein Wort, erwiderte aber jedes Lächeln. Die ganze Zeit saß sie auf ihrem Bett und starrte vor sich hin. Heiko, der beschlossen hatte sich um sie zu kümmern, musste sie zur Essenszeit bei der Hand nehmen und in den kleinen Speisesaal führen. Dort aß sie, was ihr vorgesetzt wurde, und blieb anschließend still sitzen, bis Heiko sie an der Hand wieder in ihren Schlafraum führte. Pater Sparn hatte beschlossen, ihr drei Tage Eingewöhnungszeit zu lassen, ehe sie zur Mitarbeit im Haus aufgefordert wurde. »Warten wir mal ein bisschen ab«, sagte er. »Vielleicht stellt sich ja auch heraus, dass wir sie in die Psychiatrie bringen müssen, weil die ihr dort besser helfen können.«
Als Heiko Karla heute zum Frühstück abholte, wirkte sie anders auf ihn, nervös und aufgeregt. Ihre Augen huschten unruhig hin und her und sie umklammerte seine Hand ganz fest. Als sie dann im Speisesaal saß, wollte sie nicht essen. »Was hast du, bist du krank?«, fragte Heiko und versuchte sie zu beruhigen.
Sie starrte vor sich hin und murmelte nur: »Ich habe keinen Hunger.«
»Na gut«, sagte Heiko, »aber du musst mir versprechen, dass du heute Mittag wenigstens was isst.«
Später am Vormittag ging er noch einmal in ihren Schlafraum, um nach ihr zu sehen. Am Tisch saßen die lange Else und die Polin, rauchten und spielten Karten. Else, eine knochendürre, rothaarige Frau in den Vierzigern blickte auf und sagte: »Ich glaube, die Neue muss in die Klapse.«
Karla saß auf dem Bett und zitterte. »Was ist los?«, fragte Heiko.
Karlas Blick irrte im Zimmer umher. »Ich spüre die Kraft«, murmelte sie. »Starke Kraft... «
»Ach, redet schon ganzen Morgen solche Scheiße«, sagte die Polin. »Ist krank in Kopf, würde ich meinen, Heiko, ganz krank in Kopf!«
Heiko setzte sich neben Karla aufs Bett. »Was denn für eine Kraft?«
Karla zeigte auf den Fußboden. »Da unten ... starke Kraft.«
»Ist ganz krank in Kopf von Schnaps. Armes Ding«, sagte die Polin.
»Ach, sei doch mal still!«, sagte Heiko, was bei der Polin aber im Allgemeinen wenig nützte. »Was meinst du denn damit, Karla? Da unten ist doch nichts. Nur der Kartoffelkeller und der Erdboden.«
»Starke Kraft ... wird immer schlimmer. Wird gefährlich.«
Mehr sagte Karla nicht. Heiko blieb einen Moment bei ihr sitzen und hielt ihre
Hand. Das Zittern ließ nach. Als er sie mittags zum Essen holte, lächelte sie wieder. Offenbar war der sonderbare Anfall vorüber, und sie aß widerstandslos ihre Suppe auf.
Im Moment war Heiko allein, weil Pater Sparn sich heute auf Spendensammeltour befand und Michl mit Frank, dem Zivi, mit dem sich Heiko die Schicht teilte, zum Einkaufen gefahren war. Wenn die beiden nachher zurückkommen, werde ich wieder nach Karla sehen, nahm er sich vor . Es schien ihm, dass sie Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Er wollte sich bei Pater Sparn dafür einsetzen, dass Karla bleiben durfte und nicht in die Psychiatrie geschickt wurde.
Plötzlich klopfte jemand an die Glasscheibe, die vom Büro auf den etwas düsteren Eingangsflur des Hauses ging. Als die Zuflucht noch eine Schule gewesen war , hatte hier der Hausmeister gesessen.
Heiko schob das Fenster auf. Die Polin stand draußen. »Ist weg, das arme Ding. Ist verschwunden von Erdboden.«
»Was? Karla ist weg?«
»Na, Else und ich sind gegangen ein bisschen fernsehen. Da war Karla auf Bett, wie immer. Hat wieder ein bisschen geredet wie heute Morgen. Na, du weißt schon. Diese Kraft, diese Kraft und so. Nach zehn Minuten ich merke, ich habe vergessen Zigaretten. Also gehe ich zurück. Na, und Karla ist weg. Wir
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