Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
haben geguckt überall in Haus, auf Klo, überall. Nix.«
»Wann war das?«, fragte Heiko.
»Na, eben. Paar Minuten.«
Else kam hinzu. »Ich weiß, wo die Verrückte ist!«, verkündete sie. »Der Willi hat sie in die Kirche gehen sehen.« Heiko überlegte. Streng genommen durfte er seinen Platz nicht verlassen, solange er allein im Haus war. Andererseits handhabte Pater Sparn solche Dinge flexibel. »Wichtig ist, immer die Erfordernisse des Augenblicks zu sehen«, sagte er. »Das ist besser als sture Regeln.«
»Ich gehe mal schnell rüber und sehe nach ihr«, sagte Heiko. »Bleibt ihr beiden solange hier beim Büro. Und wenn das Telefon klingelt, ruft ihr mich, okay?« »Klar, Chef«, sagte Else.
Eilig ging Heiko über den Hof zur Kirche hinüber. Willi, ein dürrer Alter mit gelben, toten Augen, der seit drei Wochen in der Zuflucht lebte, war gerade dabei, den Hof zu kehren. »Die Karla ist in der Kirche«, sagte er. »Hat mit sich selbst geredet, als sie hier vorbeikam. Hat mich gar nicht gesehen.«
Der Seitenausgang der Kirche ging zum Hof der Zuflucht hinaus und war Tag und Nacht geöffnet, so- dass die Berber jederzeit Zutritt zu ihr hatten - außer wenn in ihr Pfarrgottesdienste stattfanden. Obwohl er nicht an Gott glaubte, mochte Heiko Kirchen wie diese. Sie war im neugotischen Stil gebaut und wirkte auf ihn sehr romantisch. Wenn er Zeit dazu hatte, ging er täglich für ein paar Minuten hinein, um das Spiel des Lichtes in den hohen, bunten Fenstern zu bewundern. Die beiden Patres sorgten dafür, dass drinnen immer viele Kerzen brannten. Die Kirche wurde nicht nur von Sparn und Michl für ihre Schäfchen genutzt, sondern an manchen Tagen auch für Gottesdienste der hiesigen Pfarrei, die aber noch über eine größere Kirche zwei Straßen weiter verfügte. Die Teilnahme an den Pfarrgottesdiensten war Pater Sparns Berbern aber untersagt, worüber Sparn immer wieder in heftigen Streit mit dem Pfarrer und dessen Gemeinderat geriet. »Diese Sonntagschristen!«, polterte er dann. »Aber ich gebe nicht auf. Mit Gottes Hilfe kriege ich sie eines Tages so weit, dass unsere Leute ganz normal mit ihnen Gottesdienst feiern dürfen. Ich bearbeite sie immer wieder neu deswegen!«
Heiko zog die schwere, quietschende Tür auf und ging hinein. Drinnen herrschte Dämmerlicht, da der Tag grau und wolkig war. Der Weihrauchgeruch vom Mittagsgebet hing noch in der Luft. Michl hatte es heute geleitet, sein bayerischer Bass hallte dabei immer sehr eindrucksvoll durch die Kirche.
Anfangs schien es völlig still zu sein, dann hörte Heiko eine Stimme, einen leisen, fremd wirkenden Singsang: Karlas Stimme. Die Worte konnte Heiko nicht verstehen. Heiko entdeckte sie nicht sofort. Die Stimme kam von vorn, vom Altar. Was tat Karla dort? Langsam, mit einem scheuen Gefühl, ging Heiko zwischen den alten, abgewetzten Kirchenbänken hin- durch. Vielleicht betet sie, dachte er. Vielleicht sollte ich sie dabei nicht stören, ihre Privatheit respektieren.
Er blieb stehen, konzentrierte sich auf diesen leisen Singsang, der vorne beim Altar aufstieg, und versuchte Karlas geflüsterte Worte zu verstehen. Vielleicht war es nicht richtig, sie zu belauschen, aber seine Neugierde siegte. Er konnte nicht anders, er musste mehr über Karlas Geheimnis herausfinden. Außerdem erfuhr er auf diesem Weg vielleicht etwas, das ihm half, Karla vor der Psychiatrie zu bewahren.
Langsam ging er weiter auf den Altar zu. Wo war sie? Er sah sie nicht. Jetzt hatte er sich weit genug genähert, um die Worte verstehen zu können.
»... starke Kraft ... ich komme, ich komme ... du bist unruhig... ich spüre dich... ich komme ... die anderen sind blind und taub ... aber ich spüre dich ... ich komme ... «
Irgendetwas an Karlas merkwürdiger Litanei machte Heiko Angst, ohne dass er genau sagen konnte, was es war. Sein Herz schlug schneller. Leise stieg er die Stufen zum Altar hoch. Er entdeckte Karlas Füße, die in zerschlissenen, löchrigen Turnschuhen steckten. Sie lag hinter dem Altar auf dem Bauch, genau im Zentrum des gotischen Fensterrunds. Sie presste mit geschlossenen Augen ihr linkes Ohr auf den Steinboden, als lausche sie auf etwas, das von unten heraufdrang. Auch ihre Handflächen waren fest auf den Boden gepresst. Ihr Körper wirkte angespannt und wurde in kurzen Abständen von einem heftigen, krampfartigen Zittern geschüttelt, das wellenförmig abebbte und dann erneut begann. Es sah sehr beunruhigend aus, als führten Karlas Muskeln ein
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