Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Dieses misstrauisch blickende Auge befand sich weit unten, zu tief für den in der Wohnungstür angebrachten Spion.
»Sie erkennen mich, hoffe ich?«, sagte Susanne. »Hauptkommissarm Wendland. Wir hatten eben telefoniert.«
»Natürlich erkenne ich Sie. Mein Personengedächtnis ist ausgezeichnet.« Die Stimme war kalt und schroff. An der Tür waren zwei Ketten angebracht, die nun beide abgezogen wurden.
Der Mann, der die Tür öffnete, saß im Rollstuhl. Ohne ein weiteres Wort und ohne Susanne noch einmal anzuschauen, drehte er sich mit seinem Stuhl herum und rollte durch einen langen, unbeleuchteten Flur. In dem Flur standen links und rechts Bücherregale, sodass gerade eben der Rollstuhl zwischen ihnen hindurchpasste - nicht sehr hohe Regale, die oberste Buchreihe war vom Rollstuhl aus erreichbar. Auch die Einrichtung des Zimmers, in dem der Rollstuhl neben einem alten, abgewetzten Tisch zum Stehen kam, bestand fast ausschließlich aus Bücherregalen.
Julius Evertz war faltiger geworden und tiefer in seinen Rollstuhl hineingesunken. Der alte Moeller hatte ihr Evertz seinerzeit mit den Worten empfohlen: »Wenn du bei einem Fall mal jemanden brauchst, der sich in der Kölner Stadtgeschichte auskennt, geh zu Evertz. Der weiß alles.«
Evertz hatte mehrere Bücher zur Kölner Geschichte verfasst und schrieb immer neue Artikel und Aufsätze zu diesem Thema. Ein angenehmer Mensch war der pensionierte Schuldirektor allerdings nicht gerade, wofür Susanne angesichts seiner Behinderung ein gewisses Verständnis aufbrachte. So weit sie wusste, war Evertz in Folge eines tragischen Sportunfalls wenige Jahre vor der Pensionierung im Rollstuhl gelandet. Da er ihr keinen Platz anbot, nahm Susanne drei gewichtige Bücher von dem einzigen vorhandenen Stuhl und setzte sich unaufgefordert.
»Eine Neuerscheinung. Die Geschichte der Römischen Besiedlung des Rheinlandes in drei Bänden. Von einem Professor der Bonner Universität. Alles in allem keine schlechte Arbeit. Leider recht nachlässig, was die Quellenangaben angeht. Anbieten kann ich Ihnen nichts. Meine Haushälterin hat ihren freien Nachmittag.«
»Das macht nichts. Danke.«
»Von unserer letzten Begegnung ist mir in Erinnerung geblieben, dass Sie die unangenehme kriminalistische Eigenschaft besitzen, Leuten Löcher in den Bauch zu fragen.«
Susanne zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. »Freut es Sie denn nicht, wenn die Polizei Ihr enormes Wissen in Anspruch nimmt?«
Evertz verzog das Gesicht. »Ach, lassen Sie doch die Höflichkeiten. In Wahrheit sind Sie froh, wenn Sie wieder hier draußen sind.«
Er schaute auf die Uhr. »Stellen Sie Ihre Fragen. Meine Zeit ist knapp. Ich muss noch einen längeren Aufsatz für die Blätter für Rheinische Landeskunde fertig schreiben.«
Susanne berichtete kurz über den Propstmord, wobei sie aber die intimen Details bezüglich Oster und Martin Hatheyer aussparte, die Evertz schließlich nichts angingen.
Er winkte ungeduldig mit der Hand. »Ist mir alles bekannt. Schließlich lese ich Zeitung. Weiter.«
Als sie ihm vom Tod der Oberin des Klosters in Bischofsweiler berichtete, veränderte sich Evertz' bislang mürrisch-gelangweilter Gesichtsausdruck. Erhob die Brauen. »Schwester Hildegardis ist auch tot?«, fragte er. »Das ist interessant.«
»Inwiefern interessant?«, fragte Susanne.
Evertz fuhr sich mit der Zunge über seine schmalen Lippen. »Nun, wenn zwei hohe kirchliche Würdenträger in so kurzer Zeit zu Tode kommen, ist das doch in jedem Fall interessant.« Er besaß eine Vorliebe für solche verbalen Katz-und-Maus-Spiele, das war ihr von ihrer ersten Begegnung in leidvoller Erinnerung.
»Die Stellvertreterin der Oberin hat mir gesagt, es gäbe eine historische Tradition, die den Dom und das Kloster in Bischofsweiler miteinander verbindet. Wissen Sie etwas darüber?«
Evertz saß schief in seinem Rollstuhl, die rechte Schulter höher als die linke. Einen Moment starrte er Susanne schweigend an, dann deutete er auf die Bücherwand hinter ihr. »Das ist das Kölner Mittelalter«, sagte er. »Ich besitze mit Sicherheit alle dazu verfügbare Literatur. Und ich habe sämtliche Quellen in sämtlichen Archiven gelesen. Als Krüppel hat man Zeit für solche Dinge.«
»Und?«
Er faltete die Hände vor der Brust wie ein frommer, griesgrämiger Kardinal. »Wie jeder halbwegs gebildete Kölner weiß«, sagte er mit einer Miene, die andeutete, dass er Polizisten nicht zu den gebildeten Leuten zählte, »wurde der
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