Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
ins Zimmer zurück, starrte einen Moment auf die Regalwand mit den Mittelalter-Büchern und griff dann zum Telefon.
»Evertz hier. Mir ist eingefallen, dass ich dir noch einen Gefallen schulde. Da war gerade die Kommissarin hier, die den Mord an Oster untersucht, diese Wendland. Offenbar hat sie herausgefunden, dass ein Zusammenhang zwischen dem Dom und dem Kloster besteht ... Bitte? ... Nein, natürlich nicht! Ich habe ihr ein paar Sachen erzählt , die ihr ein bisschen Stoff zum Nachdenken geben. Aber das Wesentliche habe ich natürlich verschwiegen ... Nein, ich glaube nicht, dass sie etwas von der Existenz der Geheimen Zunft ahnt. Ja, selbstverständlich... Keine Ursache.«
Der Mann im Rollstuhl legte den Hörer auf. Er sah blass aus. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gebildet. Mit zitternden Fingern zog er ein silbernes Pillendöschen aus der Tasche und schluckte eine der Tabletten. »Heilige Maria, steh uns bei«, murmelte er leise. »Was wird geschehen, wenn die Energie freigesetzt wird?«
Er blickte unruhig umher, schien sich in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung plötzlich wie in einem Gefängnis zu fühlen.
Zitternd und mit flatterndem Herzen stand Karla vor dem Domportal - ein gewaltiges Steingebirge, das vor ihr in den Himmel ragte. Die steinernen Gesichter über den Domtüren schauten sie an. Ernst. Traurig. Fragend. Karla streckte den rechten Arm aus, sodass die Finger schräg nach unten wiesen.
»Da«, sagte sie leise, »da, starke Kraft. Ich bin gleich bei dir.«
Karla spürte, wie die Erde unter ihr zitterte. Der seufzende Leib eines riesigen Tieres.
»Ich komme«, flüsterte sie und ging auf den Eingang zu. Sie ließ sich mit einer Gruppe Touristen durch die Drehtür nach drinnen spülen. Sie trieb, jetzt beide Arme ausgestreckt, langsam durch das Langhaus, dem Chor entgegen. Sie hatte das Gefühl zu schweben, spürte ihre Füße kaum. Durch ihre halb geschlossenen, zitternden Augenlider nahm sie ihre Umgebung nur schemenhaft wahr. Mehrfach stieß sie mit der Schulter gegen irgendeinen Dombesucher, kümmerte sich aber nicht darum.
»Ich komme«, flüsterte sie immer wieder. »Ich komme.«
Das, was sie vom Inneren des Doms sah - Kerzenflammen, bunt leuchtende Fenster, Kirchenbänke aus dunklem Holz -, vermischte sich mit anderen Bildern, die vor Karlas innerem Auge aufstiegen - kreisende blaue Lichter, zuckende Engels- und Dämonengesichter. Alles bewegte sich in einem vibrierenden Tanz und floss ineinander, vielfarbig und verwirrend. Sie fiel hin, jemand half ihr auf. Sie schwebte weiter, ohne ihre Füße zu spüren. Sie spürte sie erst wieder, als sie oben an einer mit einem niedrigen Gitter abgesperrten Treppe stand. Karlas ausgestreckte Hände zitterten wie eine Wünschelrute.
Karla kletterte über das Gitter, bebend und unbeholfen, stieg die Stufen hinunter und stand vor dem Eingang zur Bischofskrypta. Der Weg hinab war durch ein weiteres Gitter versperrt, eine hohe, schwere Tür aus dicken Eisenstangen. Karlas Hände umklammerten die Türstreben. Sie musste hinunter, tief hinunter. Sie schloss die Augen und sah blaue Lichter, kreisende, tanzende Lichter. Diese Tür durfte ihr nicht den Weg versperren. Sie drückte dagegen, doch die Tür gab nicht nach. Ihre Hände rüttelten an den Eisenstäben, erst leicht, dann immer heftiger. Die Stäbe wackelten und schepperten, aber sie gaben nicht nach. Karla musste dort hinunter. Sie spürte wie ein Schrei in ihr aufstieg, ein verzweifelter Schrei. Er schoss in ihrer Brust hoch und ergoss sich über ihre Lippen. Sie schrie und schrie und rüttelte an den Gitterstäben.
Hände packten sie von hinten, zerrten sie von der Tür weg. Zwei große Männer in langen, roten Mänteln hielten sie fest.
Karla wehrte sich. »Ich muss da hinunter«, lallte sie. Wieder quoll dieser Schrei aus ihr heraus, ein lauter gequälter Schrei, der hoch in die Gewölbe des Doms aufstieg.
Die Männer hielten sie fest, schüttelten sie. »Mensch, hören Se doch mit dem Jeschrei auf«, sagte einer. »Wat is' denn mit Ihnen, Frau?«
»Die braucht ,n Arzt«, sagte der andere. »Los, mir müssen se wegschaffen. Die mät uns ja de Leut' verrückt mit dem Jeschrei.«
Sie zerrten sie die Treppe hoch. Karla zappelte und wehrte sich und schrie. Die beiden schon älteren, weißhaarigen Männer keuchten. Auf der obersten Treppenstufe fing Karla plötzlich an zu kratzen wie eine gefangene Katze. Sie zog dem einen Mann eine blutige Strieme über die Wange. Er
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