Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
Dann marschierten die Fremden einfach wort- und grußlos zur Tür hinaus.
Chris und Jonas starrten aus dem Fenster und beobachteten, wie sie langsam davongingen, Mario schlaff über der Schulter des Mannes baumelnd. Sie verschwanden aus dem Lichtschein der Laterne und die Dunkelheit verschluckte sie.
Jonas, dessen Gesicht wieder etwas Farbe bekommen hatte, drückte Chris an sich. »Mein Gott, bin ich froh, dass sie endlich weg sind«, stöhnte er. »Du bist sehr tapfer gewesen, mein Bärchen!«
Chris fühlte sich ziemlich erschöpft und wackelig. »Ich glaube, ich muss mich mal hinsetzen«, sagte sie.
Sie schauten beide zum Sofa hinüber und zögerten. Wie oft hatten sie es sich schon darauf gemütlich gemacht. Aber jetzt, nach dem, was geschehen war ...
Mister Brown schaute zu Chris und Jonas hoch, lief zum Sofa und schnüffelte prüfend daran. Er knurrte noch einmal leise, offenbar in Erinnerung an die ungebetenen Gäste, doch dann wuffte er, wedelte mit dem Schwanz und – schwupp! – lag er auf dem Sofa, wobei er neben sich noch genug Platz für Chris und Jonas ließ. Er schaute sie auffordernd an.
Chris musste unwillkürlich lachen. »Alles okay, glaub ich«, sagte sie und Jonas meinte: »Allmählich beginne ich zu begreifen, wozu ein Medizinhund so alles gut ist!«
Noch lange saßen sie dort auf dem alten Ledersofa. Irgendwann fing Jonas an zu reden, über Quantenphysik und nichtlokale Felder und naturwissenschaftliche Paradoxa und Chris wusste, dass das seine Art war, den Schrecken über ihre Begegnung mit dem Unerklärlichen zu verarbeiten. So hörte sie einfach still zu, wie die Sätze aus ihm heraussprudelten, und hielt dabei seine Hand, froh, seine Nähe und Wärme zu spüren. Und sie kraulte Mister Brown den Kopf. Der war eingeschlafen, zufrieden, die beiden Menschen verteidigt zu haben, die zu beschützen er sich als Aufgabe gewählt hatte. Ab und zu wuffte und seufzte er leise in einem jener Träume, wie sie nur Medizinhunde träumen.
9. KAPITEL
Weder Jonas mit seinem Hang zur Philosophie noch Susanne mit ihrem scharfen kriminalistischen Verstand gelang es, vernünftige Antworten auf die vielen Rätsel der Jaguar-Morde zu finden. Chris philosophierte viel mit Jonas und telefonierte viel mit Susanne, doch irgendwann gab sie auf. Warum hatten die Balam-Leute erst nach so vielen Jahren Rache genommen? War es so gewesen, dass Nachtauge erst heranwachsen, der Jaguar in ihm gewissermaßen heranreifen musste? Und wieso hatten die Balam-Leute ihre unheimlichen Kräfte erst jetzt eingesetzt, da es ihnen doch eigentlich ein Leichtes hätte sein müssen, seinerzeit den Diebstahl des Schädels und das Massaker an Votans Sippe überhaupt zu verhindern? Hatte es irgendeine besondere Affinität zwischen Felten und dem Schädel gegeben, die es ihm ermöglicht hatte, ihn in seinen Besitz zu bringen und über so lange Zeit zu behalten? Chris musste dabei an die sonderbare Ähnlichkeit zwischen Felten und jenem mysteriösen Außerirdischen namens Kartam denken, dem Carim zutiefst misstraut hatte. Rätsel über Rätsel ...
Immerhin war Chris ein bisschen stolz darauf, wie sie sich als Schamanin gegenüber dem Jaguar und der arroganten Tula behauptet und ihr Reich verteidigt hatte – ohne darüber aber Mister Browns tapferen Einsatz zu vergessen. Und allmählich schuf der Alltag eine wohltuende Distanz zu den unheimlichen Ereignissen. Bald würden die beiden Luchse kommen, ein Ereignis, dem Chris mit Spannung entgegenfieberte. Das waren keine unheimlichen dämonischen Raubkatzen, sondern ganz natürliche aus Fleisch und Blut. Wunderschöne Tiere. Chris freute sich darauf, sie dabei zu beobachten, wie sie Günters Wald durchstreiften. Hier wurde einmal wieder Chris’ Fachwissen als diplomierter Zoologin gefordert, die sie ja schließlich auch immer noch war. Die Wissenschaftlerin in ihr war gespannt, wie dieses Auswilderungsexperiment gelingen würde. Luchse in der Eifel!
Ungefähr zwei Wochen nach der Konfrontation mit den Balam-Leuten saß Chris an einem sommerwarmen, sonnigen Nachmittag auf dem Hochsitz, den Jonas ihr im vorigen Jahr als Geschenk zu ihrem dreißigsten Geburtstag gebaut hatte. Immer wieder einmal kam es vor, dass sie an Carim denken musste. Der Nachthimmel hatte auch früher schon eine große Faszination auf Chris ausgeübt. Aber jetzt blickte sie an klaren Abenden auf neue Weise zu den Sternen empor. Hatte es tatsächlich einmal eine Zeit gegeben, in der dort draußen auf anderen Planeten,
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