Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
sich davon nicht gefangen nehmen zu lassen. Es konnte sehr verführerisch sein, sich von den Kristallbildern in die Irre führen zu lassen. Doch sie spiegelten einem letztlich nur die eigenen Bewusstseinsinhalte, die eigenen Ängste und Sehnsüchte in sich statisch wiederholenden Phantasien. Chris reiste weiter.
Da war das Ende des Tunnels. Das milde Licht eines scheinbar ewigen Sommermorgens. Die samtige Wiese mit den großen Bäumen, die sich sanft im Wind wiegten. Die Bärin kam, Chris’ Krafttier, und Chris streichelte ihr den Kopf. Chris hatte ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, was für eine dumme Brummbärin sie selbst sein konnte. Mario hatte sich bei ihr entschuldigt und im Grunde fand sie ihn sympathisch. Er wirkte ernsthaft und reif für sein Alter, wie es häufig bei Menschen der Fall war, die sich als Außenseiter empfanden. Das kannte Chris aus ihrer eigenen Jugend nur zu gut, als sie die sonderbare Hexe mit dem zweiten Gesicht gewesen war, mit der die anderen nichts zu tun haben wollten.
Und natürlich hatte Jonas Recht. Sie war sich ihrer selbst noch nicht sicher genug, sonst hätte sie über solchen Bemerkungen gestanden, wie Mario sie gemacht hatte. Und sie war oft so jähzornig und schnell beleidigt. Ein Glück, dass Jonas es trotzdem mit ihr aushielt und Susanne sie trotzdem mochte. Wenigstens war sie nicht nachtragend. Ihr heftig aufbrausender Zorn verrauchte so schnell, wie er über sie kam, und hinterher tat es ihr Leid, wenn sie wieder einmal jemanden vor den Kopf gestoßen hatte. Das ist wohl der unberechenbare Zorn der Bärin, der mich zuweilen überkommt, dachte sie.
Nun gut, sie war höchst unvollkommen. Was blieb ihr übrig, als das Beste daraus zu machen? »Schaun wir mal, wie wir Mario helfen können«, sagte sie zu der Bärin. Sofort spürte sie den Impuls, auf den Rücken des stattlichen Tieres zu klettern. Sie hielt sich am Nackenfell fest und die Bärin trabte los. Chris sah eine Bergkette am Horizont, die rasch näher kam. Die Berge waren Chris fremd, woraus sie folgerte, dass sie aus Marios Seelenlandschaft stammen mussten. Es war immer wieder faszinierend, wie bei diesen Heilungstrancereisen ihre eigene »Arbeitsplattform«, wie sie es nannte – der Kristalltunnel und die Wiese mit den alten Bäumen, auf der sie die Bärin und andere Geisthelfer traf –, mit der Innenwelt des oder der Ratsuchenden verschmolz.
Als hätte jemand sie herangezoomt, befanden sich die Berge jetzt am Rand von Chris’ Wiese. Es waren keine besonders hohen Berge. Dichter Dschungel wuchs auf ihnen. Vielleicht handelte es sich um Erinnerungen an Marios Heimat Belize – üppiger Dschungel, erfüllt von geheimnisvollen Tierstimmen. Sie klangen Chris, die noch nie in Mittel- oder Südamerika gewesen war, fremd in den Ohren.
Ein schmales Tal öffnete sich zwischen den mit hohen Urwaldbäumen bewachsenen Hängen. Die Bärin trabte ohne zu zögern in dieses Tal hinein. Und dann sah Chris vor sich etwas sehr Ärgerliches: eine schwarze Wand. »Oh, nein!«, stöhnte sie.
Eine Wand aus dichter, undurchdringlicher Schwärze, die aussah, als hätte sie jemand mit einem dicken Filzstift mitten in den Dschungel gemalt. Die Bärin bremste nicht ab, sondern legte noch einen Zahn zu. Chris wusste, was kam, duckte sich unwillkürlich und klammerte sich, so gut es ging, im dichten Pelz ihrer Geisthelferin fest.
Buff! Ein dumpfer Aufprall, der nicht wirklich schmerzhaft war. Ein Sprung wie gegen dicken, weichen Schaumstoff. Chris und die Bärin purzelten übereinander und blieben im Gras sitzen, während der Gesang der fremden Vögel oben in den Urwaldbäumen ein wenig spöttisch klang. Chris umfasste ihre Knie mit den Armen, starrte auf die schwarze Wand und überlegte.
Schamanische Kreativität war gefordert. Fette schwarze Filzstiftwand ... war der Filzstift wasserfest? Chris rief den Roten Milan, der ihr in letzter Zeit häufig gute Dienste leistete, und ließ sich von ihm einen nassen Schwamm bringen. Unverzüglich tauchte der Milan über den Urwaldwipfeln auf. Er trug einen Schwamm in den Fängen und ließ ihn in Chris’ ausgestreckte Hand fallen.
Gut. Chris trat an die Wand. Es reichte aus, wenn sie ein Loch hineinwischte, das groß genug für sie und die Bärin war. Eine energetische Blockade. Wer hatte sie errichtet? Und warum? Sie rieb, scheuerte – ohne Erfolg. Das Schwarz ließ sich von dem nassen Schwamm in keiner Weise beeindrucken. Es blieb undurchdringlich.
Ein Teil von Marios Bewusstsein
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