Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
Leute.«
Sie gelangten in die riesige Eingangshalle. Mario, dem offenbar allmählich dämmerte, dass er in einen gefährlichen Fettnapf getreten war, versuchte die Situation zu retten. »Na ja, das ist eigentlich ja echt cool, dass du zu dir stehst, obwohl du so dick bist. Ich meine, so was ist heutzutage eine echte Rarität, wo doch alle Frauen superschlank und fit sein wollen.«
»Ich stehe nicht zu mir, obwohl ich dick bin!« Chris sah jetzt aus, wie sie immer aussah, wenn ihr gleich der Kragen platzte. Jonas dagegen schien große Mühe zu haben ernst zu bleiben. »Hör zu, am besten du quasselst nicht so viel, wenn ich dir schamanisch helfen soll«, sagte Chris. »Leute, die zu viel quasseln, kann ich überhaupt nicht leiden!«
»Entschuldigung«, sagte Mario. Er verschwand in der Küche.
»Hey«, Susanne legte Chris beschwichtigend die Hand auf den Arm, »er hat’s sicher nicht so gemeint.«
»Warum muss ich mich immer dafür rechtfertigen, dass ich rund bin? Die meisten Leute scheinen das für eine Art Krankheit zu halten, wie Lepra oder so! Aber ich steh trotzdem dazu!«
»Warum regst du dich dann so auf, mein Bärchen?«, fragte Jonas. »Wenn du innerlich dazu stehst, kann’s dir doch egal sein, was die anderen reden.«
Chris bewegte wütend aufbrausend den Kopf, sodass der kleine Zopf wild baumelte. »Ach! Jetzt fang du auch noch an!«
Mario kam mit einem Tablett zurück – Teller mit je zwei großen Stücken von Hedwigs Marmorkuchen darauf, Butter und Marmelade. »Limo und Cola hab ich oben auf dem Zimmer.«
Sie gingen hinauf. »Oh, ein Camus-Fan«, sagte der belesene Jonas anerkennend.
Chris aß nur ein Stück Marmorkuchen. Ohne Butter und Marmelade. Dann schob sie ihren Teller demonstrativ weg und grummelte: »Soll nur jemand behaupten, ich wäre verfressen.«
Mario unternahm einige verkrampfte Versuche mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen, doch Chris schmollte erkennbar. Als Susanne und Jonas gerade den letzten Bissen ihres Kuchens im Mund hatten, sagte Chris: »So, dann fangen wir wohl besser mal an. Leg dich aufs Bett, mein Junge, halt den Mund und mach die Augen zu!«
Jetzt reagierte Mario empfindlich. »Ich mag es nicht, wenn man mich herumkommandiert«, sagte er ärgerlich
Chris verdrehte die Augen. »Na gut, würdest du dich bitte hinlegen!« Dann wandte sie sich mit gereizt funkelndem Blick Jonas und Susanne zu. »Und ihr beiden zieht am besten Leine. Wenn ihr die ganze Zeit hier rumsitzt und zuguckt, macht mich das nervös!«
Jonas, nach wie vor bester Laune, gab Susanne einen Wink.
Draußen auf dem Flur sagte er grinsend: »Die beiden verstehen sich ja prächtig.«
»Chris ist aber auch wirklich überempfindlich, was ihre Figur angeht«, meinte Susanne. »Ein falsches Wort und ...«
»Zeig mir doch mal die Stelle draußen im Garten, wo der Junge diese merkwürdigen Indianer gesehen haben will. Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine Spur. Vier Kommissar-Moeller-geschulte Augen sehen mehr als zwei. Darf ich mir diesen Kristall mal anschauen?«
Susanne schüttelte den Kopf. »Hab ihn ins Labor gegeben. Mal sehen, ob die was Interessantes daran entdecken.«
»Vielleicht solltest du ihn besser wieder an den Balkon hängen. Schließlich wissen wir nicht, welche Funktion er hat – der Schulwissenschaft zum Trotz einmal unterstellt, dass solche Kristalle überhaupt irgendeine Funktion haben können.«
Susanne winkte ab, während sie hinaus in den Garten gingen. »Ich glaube, so wichtig ist das Ding auch wieder nicht.«
Während Jonas sich auf dem Rasen und bei den Sträuchern umschaute, kam Susanne erneut auf Chris’ Pfunde zu sprechen. »Vielleicht sollte sie wirklich abnehmen. Ich meine, wir leben nun mal in einer Zeit, in der Dünnsein als schön gilt. Wenn die Meinung der anderen ihr so
zusetzt ...«
Jonas, der in die Hocke gegangen war, um unter die Sträucher zu spähen, richtete sich wieder auf. »Hier ist nichts zu sehen. Glaub mir, Chris will nicht wirklich abnehmen. Sie ist gern rund. Im Grunde mag sie sich so wie sie jetzt ist – und isst, mit Doppel-S. Und sie weiß, dass ich sie schön und erotisch finde. Dass es für sie okay ist, sieht man ja auch daran, dass sie rund und dabei gesund ist. Sie hat sich gerade noch routinemäßig vom Arzt durchchecken lassen: Blutdruck, Blutfettwerte und so weiter – alles topp! Aber es fällt ihr noch ein bisschen schwer, dazu zu stehen. Das ist ja auch kein Wunder, bei dem Schlankeitsterror in den Medien. Die Frauenzeitungen
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