Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
von unten ... klettern.«
Susanne drückte Mary ihr Kärtchen in die Hand. »Hier. Ich sehe mir das mal von draußen an. Wenn sich die Lage verändert, rufen Sie mich übers Handy. Das ist leise und irritiert ihn weniger.«
Während sie die Treppe hinuntereilte, telefonierte sie mit Tönsdorf. »Torsten ist zu dir unterwegs, braucht bis Herzogenforst aber wohl noch zwanzig Minuten und ein Streifenwagen ist wohl auch nicht schneller da.«
»Na prima«, sagte Susanne. »Thürmann muss reden. Tot wird er uns kaum weiterhelfen.« Sie war unten angekommen und ging vorsichtig um das Haus herum. Hinter einem hohen Strauch blieb sie stehen und betrachtete die Hausfassade. Im Parterre gab es eine große gepflasterte Terrasse. Darüber drei Balkone. »Ich geh rauf«, sagte sie. »Im Klettern war ich schon als Kind gut.«
»Mensch, mach keinen Scheiß! Ich schick dir die Feuerwehr mit ’ner Drehleiter. Warte so lange!«
»Ich bin durch Moellers harte Schule gegangen, vergiss das nicht. Da gehörte Fassadenkletterei zum Einmaleins.«
»Blödsinn! Warte, bis die Drehleiter da ist. Was ist, wenn er ’ne Waffe hat, und du hängst am Balkon?«
»Ich brauch seine Aussage und ich hol sie mir.« Susanne unterbrach die Verbindung. Auf der rechten Seite der Balkone gab es einen durchgehenden Windschutz, ein teilweise mit Holz verkleidetes Eisengestell, das bis zum dritten Balkon hinaufreichte und fast so gut wie eine Leiter war. Nun ja, fast. An diesem Eisengestell hangelte sie sich hoch. Ihr Atem beschleunigte sich, sie spürte ihren Puls, aber Arme und Beine fühlten sich beruhigend kräftig an. Gelegentlich zahlte es sich doch aus, dass sie mit Torsten freiwillig einmal im Monat auf dem Übungsgelände der Polizei all die Kunststückchen trainierte, die der Durchschnittsbeamte liebend gerne den Kollegen in den Fernsehkrimis überließ.
Die Fallhöhe reichte inzwischen für einen sauberen Genickbruch. Schwer atmend erklomm sie den dritten Balkon. Das Problem war nur, dass sie sich auf der Außenseite des Windschutzes befand. Sie musste einen Schritt um die Ecke machen, auf das Balkongeländer. Durch einen Spalt zwischen Metallrahmen und Holzverkleidung konnte sie die Balkontür sehen, die sich gleich neben dem Windschutz befand. Sie stand offen. Der Balkon war leer, das sah sie ebenfalls durch den Spalt, aber vom Büro selbst war kaum etwas zu erkennen. Sie spürte, wie die Kraft in ihren Händen nachließ. Sie musste auf den Balkon. Schnell. Sie schwang ihr rechtes Bein um die Kante des Windschutzes herum und stellte es auf das Geländer. Dann schob sie den Körper vorsichtig um die Ecke. In diesem Moment flog etwas Langes aus der Balkontür und blieb mit einem dumpf schnalzenden Geräusch in der Holzverschalung des Geländers stecken, vielleicht drei Zentimeter unter Susannes rechtem Fuß. Ein Speer mit bunten indianischen Symbolen auf dem hölzernen Schaft.
Thürmann stand neben seinem Schreibtisch und nahm gerade den nächsten Speer. »Verschwinden Sie!«, keuchte er. »Ich will niemanden sehen!«
»Eine Spur des Todes«, sagte Mario leise. Sie hatten die Autobahn verlassen. Vor ihnen kamen die Häuser Buchfelds in Sicht, eingebettet zwischen sanften Eifelhügeln. Mario hatte während der ganzen Fahrt kaum ein Wort gesprochen, fast nur mürrisch vor sich hin gestarrt. Der Koffer lag auf dem Rücksitz. »Wo führt sie nur hin, diese Spur?« Es war nicht angenehm, Mario im Wagen zu haben. Seine so merkwürdig in ihm zusammengerollte Energie schien sehr stark mit Wut aufgeladen zu sein und Chris musste Acht geben, dass sie sich von dieser Gereiztheit nicht anstecken ließ. Was geschieht, wenn seine Energie sich plötzlich entlädt?, fragte sie sich. Sie vermutete, dass die unterdrückte Wut aus jenen ersten fünf Leberisjahren stammte, an die er sich nicht erinnern konnte oder wollte.
Und auch der Inhalt des Koffers beunruhigte Chris außerordentlich. Die geradezu magnetische Anziehungskraft des geheimnisvollen Kristallobjektes war so groß, dass sie während der Fahrt phasenweise mit aller Willensanstrengung gegen die Versuchung ankämpfen musste einfach auf dem Seitenstreifen zu stoppen, den Koffer aufzureißen, den Schädel in beide Hände zu nehmen und hineinzuschauen. Es war, als rufe er mit aller Macht nach ihr. Aber sie widerstand tapfer. Später, sagte sie sich. In der geschützten Umgebung meines Eifel-Reiches. Sie steuerte den Landy an Buchfeld vorbei auf die Landstraße, die hinauf in den Wald führte. Nach
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