Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
ganze Mittelamerika-Archäologie von einer wilden Goldgräberstimmung geprägt. Immer mehr Maya-Texte wurden entschlüsselt, immer mehr Kunstgegenstände tauchten aus dem Dschungel auf, manche echt, manche genial gefälscht, und erzielten bei Auktionen enorme Preise. Wir wollten ein Stück von dem Kuchen: einen Schatz finden und auf diesem Weg so schnell wie möglich reich werden.«
Er trank einen Schluck Whisky. Das nervöse Zucken in seinem Gesicht hatte sich wieder beruhigt.
»Wer war wir?«, fragte Susanne.
»Felten, Bishop, die Eberhards und ich. Die Eberhards waren etwas älter als wir, aber nicht weniger gierig und skrupellos. Ein besonderes Geheimnis umgab die Balam-Menschen, ein kleines Indianervolk, das angeblich nomadisch den Dschungel von Yucatan, Guatemala und Belize durchstreifte. Wie es hieß, besaßen sie Kultgegenstände, die aus einer älteren Epoche stammen sollten als alle Maya-Funde. Und sie sollten die Hüter eines der singenden Kristallschädel sein. Da sagten wir uns, okay, die nehmen wir uns vor.
Wir machten einen alten englischen Archäologen ausfindig, der behauptete, er hätte Vorjahren für einige Monate bei den Balam-Menschen gelebt und sie hätten ihm den Kristallschädel gezeigt. Er besaß sogar ein Foto des Schädels. Er war naiv und gutgläubig, sodass wir ihn von unseren hehren Absichten überzeugen konnten. Daraufhin führte er uns zu einer Balam-Sippe, die nicht nomadisch lebte, sondern im Dschungel einen bestimmten uralten Tempel bewachte. Bei diesem Tempel handelte es sich um ein stark verfallenes, architektonisch aber höchst faszinierendes Bauwerk, das sich auffallend von den Maya-Ruinen unterschied.
Tatsächlich begrüßte Votan, der Chef der Sippe, den Engländer als alten Freund. Diese Balam waren finstere, kriegerisch wirkende, mit alten Gewehren und Pistolen bewaffnete Gesellen. Uns betrachteten sie mit unverhohlenem Misstrauen, als spürten sie, was wir im Schilde führten. Trotzdem überredete der Engländer Votan uns den Tempelschatz zu zeigen. Und dieser Schatz hatte es wirklich in sich! Da war der Schädel und außerdem viele andere faszinierende Kristallobjekte – Kristalle von unglaublicher Reinheit und Schönheit. Die Kunsthandwerker jener alten Kultur, als deren Erben sich die Balam-Leute betrachteten, müssen wahre Meister der Kristallbearbeitung gewesen sein. Und auch mit Metallen konnten sie außergewöhnlich gut umgehen ...«
Susanne spürte, wie der Whisky Hitze in ihrem Magen erzeugte, und dachte an das seltsame Kristallobjekt, das in Feltens Garten gehangen hatte.
»... Ich wette, das Objekt, von dem Sie mir erzählt haben, stammt von dort. Jedenfalls hatten wir tatsächlich unseren Schatz gefunden. Es stand für uns fest, dass wir die Sachen stehlen würden. Felten war völlig besessen von dem Schädel. Er redete von nichts anderem.« Thürmann schüttelte den Kopf. »Besessen von dem Schädel und von Tula.«
»Votans Tochter«, sagte Susanne. »In seinem Testament schreibt er, sie hätten sich ineinander verliebt und sie wäre mit ihm nach Belize City gegangen.«
Thürmann lachte rau. »So würde er wohl gerne der Nachwelt im Gedächtnis bleiben. Ich will Ihnen sagen, was mit Tula war: Er war verrückt nach ihr. Aber nicht nur nach ihr. Er war einer der schlimmsten Schürzenjäger, der mir je untergekommen ist. Konnte seine Finger nicht bei sich halten. Ich weiß nicht, ob sich das in späteren Jahren geändert hat. Aber damals war es so. Tula wollte aber nichts von ihm wissen. Das machte ihn rasend. Schließlich hat er sie nachts vergewaltigt. Ich war nicht dabei, aber er hat es uns selbst erzählt. Wahrscheinlich hätte Votan ihn deswegen getötet und uns andere mit, doch wir flohen in der Nacht. Den alten Engländer brauchten wir nun nicht mehr. Er ahnte, was wir vorhatten, und drohte damit, uns zu verraten.«
Susannes verzog angewidert das Gesicht. »Also haben Sie ihn beseitigt.«
Thürmann nickte. »Felten hat das besorgt. Hat ihm nachts, als er schlief, die Pistole an die Schläfe gehalten und abgedrückt. Wir haben ihn dann irgendwo im Dschungel verscharrt. Das war schon drüben in Guatemala, wohin wir gegangen waren, weil Eberhard dort Beziehungen hatte. Mithilfe dieser Beziehungen beschaffte er uns eine zehnköpfige Truppe brutaler Ex-Soldaten. Sie gehörten zu den gefürchteten Todesschwadronen, die in Guatemala unter dem damaligen Diktator Rios Montt tausende von indianischen Bauern ermordet haben. Es gab da noch ein paar
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