Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
wie es bei einem zumindest äußerlich gesunden und vitalen Menschen überhaupt möglich war. Eine körperliche Erkrankung, irgendein Schwächezustand, schien nicht vorzuliegen. Mario verfügte körperlich offenkundig über ausreichend Energie – wenn er auch etwas nervös und übernächtigt wirkte. Bei allem, was in den letzten Tagen auf ihn eingestürmt war, schien das ja auch nicht weiter verwunderlich.
Irgendwie schien er zu spüren, dass sie ihn energetisch »abtastete«. Er hatte stumm und etwas finster auf seinen Kaffee gestarrt. Jetzt hob er plötzlich den Kopf, schaute sie an und sagte: »Ich möchte dich engagieren, Chris.«
Sie schluckte einen Bissen Kuchen herunter. »Mich engagieren?«, fragte sie erstaunt.
»Ja. Als Schamanin. Damit du mir hilfst hinter das Geheimnis des Schädels zu kommen, und hinter mein eigenes. Ich meine, das Rätsel meiner Herkunft. Ich würde dir ein gutes Honorar zahlen. Schließlich bin ich ja jetzt reich.«
Chris schüttelte den Kopf. »Schamanen nehmen für ihre Arbeit kein Geld.« Darauf legte sie großen Wert. Es gehörte einfach zum schamanischen Ehrenkodex. Schamanische Arbeit diente der Heilung der Erde und ihrer Geschöpfe. Silver Bear und die anderen indianischen Medizinmänner und -frauen, die sie kannte, hätten niemals auch nur einen Dollar für ihre Dienste angenommen. Das Gehalt, das Günter ihr zahlte, erhielt sie für die konkrete, praktische Arbeit, die sie als Landverwalterin leistete. Auf diese strikte Trennung legte sie großen Wert. »Aber ich helfe dir auch so. Ich brenne ja selbst vor Neugier mehr über all das herauszufinden. Wenn du glaubst, dem Universum oder der Mutter Erde Geld dafür geben zu müssen, kannst du’s ja für einen guten Zweck spenden. Da besteht immer reichlich Bedarf.«
»Ich will nicht mehr in dieses riesige, leere Haus zurück«, sagte Mario. »Und nach München will ich auch nicht. Was soll ich in der Villa, in der meine Adoptiveltern gestorben sind?«
»Ich könnte mich mal unter den Kollegen umhören. Vielleicht gibt’s da jemanden, der ein Zimmer unterzuvermieten hat, wo du erst mal unterschlüpfen kannst«, sagte Susanne. Sie hatte inzwischen auch aufgegeben, ihn zu siezen. Mit sichtlicher Erleichterung registrierte sie, wie Chris den letzten Kuchenbissen in den Mund schob, holte die Zigaretten aus der Tasche und fügte grinsend hinzu: »Außerdem hättest du dann gleich Polizeischutz. Wie wär’s?«
»Ich glaube«, sagte Mario zögernd und heftete seinen Blick auf Chris, »ich möchte gern weg aus der Stadt. Könnte ich vielleicht mit zu dir kommen, Chris ? Nur für ein paar Tage, bis ich was anderes gefunden habe. Und natürlich nur, wenn dein Freund auch einverstanden ist. Vielleicht wirken deine schamanischen Techniken draußen in der Natur besser, sodass wir mehr erreichen. Immerhin wären wir dort im Wald, auch wenn es nicht der Dschungel von Belize ist. Als ich am Abend nach Arnes Tod gesagt habe, dass ich Trancereisen blödsinnig finde, war das nicht so gemeint, glaub mir. Ich war einfach total durcheinander.«
Chris zögerte. Dass die schamanische Arbeit in der Natur besser funktionierte, war nicht abwegig. Diese Erfahrung hatte sie in der Tat schon öfter gemacht. Dennoch sträubte sich irgendetwas in ihr dagegen, Mario mit in die Eifel zu nehmen. Da war ein Unbehagen, das Gefühl, dass Mario ihren Frieden stören könnte, dass er dort nicht hingehörte. Verdammt, rief sie sich zur Ordnung, ich bin Schamanin und ich werde meiner Bestimmung wohl kaum gerecht, wenn ich den bequemen Weg gehe. »Okay«, sagte sie schließlich. »Meinetwegen. Aber ich muss vorher mit Jonas telefonieren, damit er sich nicht übergangen fühlt.«
Chris erreichte Jonas in der Buchfelder Polizeiwache und er hatte keine Einwände. »Bin sehr gespannt auf den Schädel«, sagte er. »Das Ganze ist etwas unheimlich, zugegeben. Aber doch auch wahnsinnig interessant. Also, bring Mario ruhig mit.«
Draußen auf dem Parkplatz kamen sie zuerst an Susannes Wagen vorbei. Susanne blieb stehen und sagte: »Chris. Warte mal.«
»Okay.« Chris drückte Mario die Hundeleine in die Hand. »Mein Wagen ist das grüne Ungetüm dort drüben. Folg einfach Mister Brown. Er kennt den Weg.« Mario nickte und ging weiter.
Mit ihrem Große-Schwester-Blick nahm Susanne Chris in den Arm. »Bist du auch wirklich wieder ganz in Ordnung? Bis in die Eifel ist es doch ein ganz schönes Stück zu fahren.«
Chris lächelte. »Klar. Keine Sorge.«
»Sei
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