Weniger sind mehr
Ruder herumgelegt werden. Die Jüngeren sollen früher ins Arbeitsleben herein, die Älteren später hinaus. Beruflich gesehen sollen die mittleren Jahre verlängert, Alter und Jugend sollen kürzer werden. Es soll in der Gesellschaft mehr und längere Leistungen (Leistungszeiten) im Beruf geben und weniger außerberufliche Leistungsempfänger.
Das soll geschehen zugunsten der Systeme sozialer Sicherung. Sie können dies allerdings nicht selbst durchsetzen. Vielmehr sind sie auf die Wirtschaft angewiesen. Kann und will diese die jüngeren Leute aufnehmen und die Älteren behalten? Die Wirtschaft zeigt sich da – wie wir in Kapitel 2 »Die Wirklichkeit der Wirtschaft« schon gesehen haben – hartnäckig sperrig, denn simple Formeln wie »früher in das Berufsleben hinein« und »länger arbeiten« geben zwar Interessen der sozialen Sicherungssysteme wieder – sie werden aber der Komplexität wirtschaftlicher Überlegungen und Alternativen nicht gerecht.
Aufstieg der Produktivität, Fall der Reproduktivität und die Stabilität der Systeme sozialer Sicherung
Wenn Menschen über Gründe und Folgen sprechen, haben sie in der Regel das Nächstliegende vor Augen. Unser Denken bewegt sich in kurzen kausalen Ketten. Die Systeme sozialer Sicherung nehmen zu wenig ein und geben zu viel aus? Dann müssen die Einnahmen erhöht, die Ausgaben gesenkt werden. Was liegt näher, als die Zahl der Einzahler zu erhöhen und die der Empfänger zu verringern! Oder: die Beitragszeiten zu verlängern und die Zeiten empfangener Leistungen zu verkürzen. Dem Denken in kurzen kausalen Ketten folgend setzen wir Ursachen und Wirkungen bei |91| den Systemen sozialer Sicherung selbst an: Sie sollen mehr Jugendliche und mehr Ältere von Leistungsempfängern in Beitragszahler verwandeln. Dies läuft darauf hinaus, die Zeitspanne der mittleren berufstätigen Jahre zu verlängern und die der nutznießenden Jahre vorher und nachher zu verkürzen. Dies alles wird aus der Interessen- und Handlungsperspektive der sozialen Sicherungssysteme selbst gesehen. Als ob die Ursache ihrer Finanzmisere in ihnen selbst läge und die Abhilfe dafür genauso.
Die vorangegangenen Überlegungen haben aber gezeigt, dass der Fall anders liegt. Auch wenn die Systeme sozialer Sicherung sich so oder so steuern und Fehlentwicklungen korrigieren wollen – sie stoßen auf Widerstände ihrer selbst. Es ist die Wirtschaft mit ihrem Leitwert der Produktivitätssteigerung, die sich dagegen sperrt, auf der einen Seite unqualifizierte und wenig produktive Jugendliche zu beschäftigen, auf der anderen Seite Ältere an sich zu binden, die den neuesten Produktivitätsanforderungen nicht mehr gerecht werden. Was die sozialen Sicherungssysteme in den Produktionsprozess integrieren wollen, stößt die Wirtschaft aus.
Der Leitwert der Wirtschaft ist schlicht das Wirtschaften selbst: mit geringerem Aufwand ein besseres Ergebnis erzielen. Sie braucht, trotz erhöhter Produktion, weniger Menschen als früher. Bei denjenigen, die sie braucht, achtet sie auf das günstigste Verhältnis von Aufwand und Ertrag.
Die Industriegesellschaften haben eine Eigendynamik entwickelt, die man abgekürzt als Produktivitätsspirale bezeichnen kann. Sie schraubt sich nach oben ohne Rücksicht auf die Motive und Interessen der Beteiligten. Was immer den Unternehmern an Widrigkeiten zustößt und was sie lauthals beklagen: starke Gewerkschaften, die Lohnsteigerungen durchsetzen, erhöhte Lohnnebenkosten, Arbeitszeitverkürzungen, Steuern und einengende Gesetze – es verwandelt sich, wie vom Zauberstab berührt, in Produktivitätssteigerungen. In diesem Prozess sind Unternehmer Getriebene und Antreiber. Den höheren Kosten versuchen sie durch kostensparende Innovationen zu entkommen. So erwirtschaften |92| schließlich in den hochmodernen Unternehmen der alten wie der neuen Ökonomie kleine Zahlen von hochmotivierten und hochqualifizierten Mitarbeitern ein – wenn auch schwankendes – langfristig immer steigendes Sozialprodukt.
Möglich ist dies nur durch einen großen Komplex von kulturellen Vorleistungen, die nicht die Unternehmer selbst, sondern die historisch gewachsenen gesellschaftlichen Einrichtungen um sie herum erbringen. Auch sie haben sich von den Motiven und Interessen einzelner Menschen oder Gruppen weitgehend unabhängig gemacht. Interessengruppen und Gewerkschaften gehören allerdings dazu, ebenso wie Bildung und Wissenschaft, die Rechtsordnung, die korporatistischen Verhandlungssysteme
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