Weniger sind mehr
auf die Möglichkeiten einer gezielten Kontrolle und »lässt es darauf ankommen«. Hier sind nicht nur Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit im Spiel, sondern Ambivalenzen: »Man will (vielleicht) ein Kind, weiß aber nicht genau, warum und fürchtet zugleich die Folgen. Solche Entscheidungsprobleme werden häufig durch Wegschauen gelöst, das heißt man vermeidet eine intentionale Entscheidung und überlässt den Umständen eine definitive Festlegung.« 12 Dieter Thomä spitzt zu, »dass die bewusste Entscheidung über die Kinderfrage oft genug so ausgeht, dass man diese Entscheidung ›bewusst‹
nicht
fällt. [...] Vielmehr taugt die Kinderfrage selbst überhaupt nicht dazu, entschieden zu werden durch die Abwägung von Gründen im Sinne einer ›Projekt‹-Planung.« 13
Wahrscheinlich kommen wir damit der Sozialpsychologie des (Nicht-)Kinderkriegens und den Bewegungsgesetzen moderner Gesellschaften relativ nahe. Diese Gesellschaften bewegen sich nämlich nicht, wie uns optimistische und pessimistische Verfechter einer »Individualisierungsthese« glauben machen wollen, stromlinienförmig in die Richtung, dass immer mehr Entscheidungen individuell und rational gefällt werden. Vielmehr gibt es als Gegenbewegung auch ein Unterlaufen dieser individuellen Rationalitäten. Entscheidungen kommen, diffus, aus dem »kollektiven Bauch«. Sie sind auch im Ergebnis kollektiv, wie eben der Fall der Geburtenrate.
Die Individuen handeln, wenn sie dem Zufall und den Umständen den Vortritt lassen, nicht irrational. Sie folgen vielmehr einer moderneren Rationalität und nicht dem schlichten Projekt- oder |222| Plandenken. Es ist dies eine Vernunft, die zumindest so viel weiß, dass die Gründe für Kinder das individuelle Glück genauso wenig herbeizwingen können wie die Gründe dagegen. Die moderne Gesellschaft bietet nun einmal Möglichkeiten des Glücks und der Entfaltung, die durch eigene Kinder gesteigert, aber auch geschmälert werden können.
Im Fazit: Individualität macht sich von eigenen Kindern unabhängig. Sie steuert sich selbst anhand ihrer Leitwerte Glück und Entfaltung – ganz ähnlich wie sich Wirtschaft, Familie, Kultur anhand ihrer jeweiligen Leitwerte steuern. Das Individuum – technisch gesprochen das personale System – kann seine Erfüllung und seine Kontinuität in seinen Kindern suchen, aber auch in einem Beruf, in sportlicher und/oder wissenschaftlicher Leistung, in politischer Führung oder in karitativer Nächstenliebe. Es mag in der Teilhabe an möglichst vielen Lebens- und Erlebnissphären seine Bestätigung suchen – oder im Dienst an einer Sache oder an Gott. Diese »einseitigen« Entfaltungen von Individualität hat es bereits in der vormodernen europäischen Gesellschaft gegeben, etwa im Mönchstum und im Ritterstand.
So vielfach die Möglichkeiten der Individualität auch sind, sie führen selten zum reinen Glück. Elternglück muss auf Krankheiten, Behinderungen, Scheitern, Aufsässigkeiten und Abwendung der Kinder gefasst sein. Kinderlosen Frauen, denen beruflicher Erfolg, soziale Anerkennung, erotische Liebe leichthin über fehlendes Mutterglück hinweggeholfen haben, mögen zwischen 35 und Anfang 40 in eine nach außen verborgene, aber sich zuspitzende Leidenslage geraten, sofern der bislang aufgeschobene Wunsch nach Kindern sich trotz oder wegen aller Anstrengungen als unerfüllbar erweist. Die Entfaltung von Individualität, in welche Richtung auch immer, hat eben ihre Grenzen und ihren Preis.
Die Versuche von konservativen Moralisten, dem Individuum einzureden, dass Kinderlosigkeit sowohl gegen seine individuellen Interessen wie auch gegen die Werte der Gemeinschaft verstoße, |223| sind allerdings zum Scheitern verurteilt. Das sind Überzeugungsansätze, die nach allen Seiten ins Leere laufen. Individuellen Interessen können Kinder in der modernen Welt sowohl nützen wie auch schaden. Das moderne individualistische Menschenbild ist jedenfalls, wie Dieter Thomä darlegt, von Aristoteles über Hegel und Nietzsche bis zu Heidegger ohne Bezug auf die Eltern-Kind-Beziehung, ja sie ignorierend und eher abwertend, entwickelt worden. 14 Jetzt, da es »steht«, sind alle Versuche, den Menschen zu sagen, wie nützlich und wertvoll Kinder für sie selbst und für die Gemeinschaft sind, obsolet und kontraproduktiv, geradezu rührend-naive Anläufe zu einer Fremdbestimmung in einer Zeit, in der sich die Selbstbestimmung – von Individuen und sozialen Systemen – nicht nur als
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