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Weniger sind mehr

Titel: Weniger sind mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Otto Hondrich
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Unterstützung von Eltern und Freunden austrägt, finanziert, großzieht. Hut ab. Aber sie ist eine Außenseiterin, die Ausnahme von der Regel. Oft genug muss die alleinerziehende Mutter die Sozialstaatsgemeinschaft in Anspruch nehmen. Es bleibt ihr, im Interesse des Kindes, nichts anderes übrig. Auch ein Zeichen dafür, dass äußerste Individualisierung nur von einer Abhängigkeit in eine andere führt und dass die Norm die kollektive Unterstützung nicht auflöst, sondern aufruft.
    Aber nicht darum geht es hier. Sondern um die Konsensnorm, um die Pflicht, übereinzustimmen, also um die Verbindlichkeit, mit der heute von Mutter und Vater verlangt wird, dass sie sich auf die Geburt eines Kindes einigen. Dieser Einigungszwang wächst in dem Maße, in dem die Chance steigt, in individueller Entscheidung, ohne oder gegen den Willen des anderen, ein Kind zu bekommen oder eine Schwangerschaft abzubrechen. Eine nicht einvernehmlich entstehende oder beendete Schwangerschaft wirkt heute wie ein Vertrauensbruch; die Frau kann ihn begehen, aber der Mann auf seine Weise auch.
    Die Verpflichtung zur Übereinstimmung wächst also mit der Möglichkeit zu eigenwillig individuellen Entscheidungen. Und was ganz wie individuelle Wahlmöglichkeiten erscheint, wird von normativ-kollektiven Zwängen im Hintergrund dirigiert, die die potenziellen Eltern in die »Reproduktionsfalle« geleiten: Erst führen Bildungs- und Berufszwänge des/der einen dazu, den Kinderwunsch aufzuschieben; dann sind es die Berufszwänge der Partnerin oder des Partners; dann genügt die Partnerschaft selbst nicht mehr hochgespannten Harmonienormen; dann überdeckt eine Verstimmung des Paares eine mögliche Übereinstimmung im Kinderwunsch; dann zerbricht nicht selten die Partnerschaft und eine fieberhafte Neusuche beginnt: wiederum, wie es scheint, ganz und gar individuell – aber im Hintergrund schwingen die altbekannten Konsenszwänge das Zepter.
    |220| Zu Zeiten, in denen Kinderkriegen als Schicksal oder Glück oder bittere Notwendigkeit hingenommen wurde, gab es den normativen Zwang zum Konsens des Paares noch nicht. Die normativen Zwänge sind also nicht immer da gewesen. Sie bilden sich erst in dem Maße, in dem die Freiheit der Einzelnen, auch gegen den Willen des Partners zu entscheiden, wächst. Was, insbesondere von konservativer Seite, als Individualismus, Egoismus und Hedonismus der jungen Menschen beklagt und für den ausbleibenden Kindersegen verantwortlich gemacht wird, ist also ein Zusammenspiel von sozialen Normen – der Bildungs- und Berufstüchtigkeit und des Konsenses –, die im konservativen Denken eher noch mehr geschätzt werden als im progressiv-liberalen. Wenn trotz des hintergründig alle ideologischen Fronten überwölbenden zeugungs- und gebärfeindlichen Generalkonsenses noch Kinder geboren werden, dann liegt das daran, dass junge Eltern sich beidem entziehen: der Zumutung der Individualität ebenso wie dem konservativen Getöne von den »Werten«, die den individuellen Eigensinn bannen sollen.
    Aber wie kann man sich diesen beiden Fetischen – der Individualität und den Gemeinschaftswerten – entziehen, die doch unausweichlich im modernen Gesellschaftsleben erschaffen und erneuert werden?
    Was die Individualität angeht, so ist sie ja, nach modernem Verständnis, mit erweiterten Wahlmöglichkeiten, dem Abwägen von guten Gründen, Pro und Kontra und bewussten Entscheidungen gekoppelt. Dem Individualisierungsmodell entsprechend müssten die Kinder von heute deshalb immer mehr »Kopfgeburten« sein. Aber die jungen Leute richten sich nicht danach. Sie mögen noch so sehr die Gründe für oder gegen ein Kind erwägen oder sich vorhalten lassen – wie etwa in einer Art Fragebogen der Universität Washington mit 70 Gründen für und wider. 10 Sie mögen noch so repräsentativ nach ihren Kinderwünschen ausgefragt werden – Ergebnisse: Der Kinderwunsch steht zurück (und folgt damit dem Fall der Geburtenrate); er wird gleichwohl von der |221| überwiegenden Mehrheit geäußert; er übersteigt die tatsächliche Kinderzahl (lakonischer Kommentar: Das haben Wünsche so an sich); er ist bei jungen Frauen höher als bei jungen Männern. 11
    Wenn es tatsächlich daran geht, Kinder zu bekommen oder nicht, dann ist es mit der prognostischen Kraft von rationalen Argumenten und ausgeforschten Motiven nicht weit her. Ein hoher Anteil der jungen Leute lässt schließlich den Zufall und mangelnde Verhütungstechniken entscheiden, verzichtet

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