Wenn alle anderen schlafen
Wenn’s auch komisch klingt, ich hab’s ihr nie richtig verübeln
können, daß sie mit dem Geld abgehauen ist. Sie hat sich so bemüht, so viel
gegeben, aber es war nie genug. Je mehr sie gemacht hat, um so mehr haben Hal
und Marge von ihr verlangt. Ich schätze, ihr ist irgendwann einfach die
Sicherung durchgebrannt.«
»Ihr ist die Sicherung
durchgebrannt, und sie hat angefangen, Geld zu unterschlagen, und dann
mindestens ein Jahr damit weitergemacht, ehe sie schließlich verschwunden ist?
Das nehme ich Ihnen nicht ab.«
»Kindchen, wenn ich das richtig
seh, haben die Unterschlagungen fast auf den Tag genau zu dem Zeitpunkt
begonnen, als das Sheriff’s Department den Einstellungsstop verkündet hat. Da
muß Lee wohl klargeworden sein, daß ihr Vater sie um die Chance gebracht hat,
ihren Traum wahr zu machen. Vielleicht hat sie ja gedacht, sie nimmt sich nur
die Entschädigung, die ihr zusteht. Armes Kind.«
Armes Kind.
Heißt das, ich müßte Mitleid
mit ihr haben? Ja, sie hat ein schreckliches Leben gehabt, okay, aber viele
Leute haben ein schreckliches Leben und nehmen es nicht als Ausrede dafür, ihre
eigenen Väter zu bestehlen. Sie nehmen es nicht als Ausrede dafür, in anderer
Leute Leben einzubrechen und es zu zerstören. Nicht, wenn sie anständig sind.
Ich saß in der Citabria an der
Rollhaltelinie zu Startbahn 17, checkte Zündung und Vergaservorwärmung, checkte
ein weiteres Mal Öldruck, sonstige Instrumente und Ruder.
Und kochte innerlich. Weil ich,
nachdem ich die Geschichte vom schrecklichen Leben der braven kleinen Lee
gehört hatte, den einen oder anderen Gewissensbiß spürte. Und das gefiel mir
gar nicht. »Paradise, Citabria sieben-sieben-zwo-acht-neun zum Geradeausabflug
von eins-sieben.«
Es ist ja okay, dich in sie
einzufühlen, so kannst du ihre nächsten Schritte antizipieren. Aber um Himmels
willen kein Mitleid, das schwächt dich nur, wenn es zur entscheidenden
Konfrontation kommt.
Und es wird dazu kommen — bald.
Ich bog auf die Startbahn, gab
langsam Gas, gab etwas rechtes Ruder. Die Maschine gewann auf der abschüssigen
Bahn rasch Tempo, und der Steilabsturz am Bahnende kam immer näher. Als die
Citabria abheben wollte, zog ich den Knüppel an, und wir schwangen uns über die
Mesakante in den klaren Winterhimmel. Ich schaute aus dem Seitenfenster, sah
das Terrain jäh unter mir wegsacken und verspürte ein ekstatisches Gefühl.
Jetzt bist du hier oben, McCone
— an dem einzigen Ort, wo nichts und niemand dir etwas anhaben kann.
Freitag
abend
Es war dunkel und kalt, als ich
nach Hause kam, und noch immer keine Nachricht von Hy oder sonst jemandem von
RKI. Um mich zu trösten, machte ich Feuer im Kamin, schob mir Tiefkühllasagne
in die Mikrowelle und machte es mir später dann mit einem Glas Brandy und
meinen Lee-D’Silva-Akten auf dem Sofa bequem. Ich würde mich ganz auf diese
Ermittlungen konzentrieren, dem Drang widerstehen, eine weitere Serie
panischer, sinnloser Telefonate zu führen.
Der psychologische Hintergrund
von D’Silvas Verhalten wurde allmählich klarer: zwanghaftes Perfektionsstreben,
erwachsen aus einer schwierigen häuslichen Situation. Dann der jähe Umschlag,
ausgelöst durch die Erkenntnis, daß die Chance vertan war, ihren Traum zu
realisieren und beim Sheriff’s Department von Butte County anzufangen. Eine
unverhältnismäßige Reaktion, könnte man einwenden, aber für jemanden mit einer
rigiden, obsessiv auf ein Ziel ausgerichteten Persönlichkeit kann jeder
Rückschlag auf diesem Weg verheerende Folgen haben. An D’Silvas äußerer
Erscheinung und ihrem Auftreten änderte sich nichts, aber sie begann, ein
heimliches Zweitleben als Betrügerin zu führen. Nach ihrer Flucht hierher hatte
sie weiterhin den äußeren Schein gewahrt, was ihre Arbeit anbelangte. Aber sie
hatte jetzt eine andere Art heimliches Zweitleben in den Bars und Clubs der
Stadt geführt. Ich griff nach der Akte mit ihrer Jobbewerbung und unserem
Background-Check. Blätterte sie durch und bemerkte, daß ihr erster Job eine
Stelle bei einer drittklassigen Sicherheitsfirma gewesen war. Warum, angesichts
ihrer hervorragenden Studienleistungen? Wenn sie diesen Job unter einer
falschen Identität angetreten hätte, wäre es ja erklärbar gewesen. Aber das
hatte sie nicht getan. Warum nicht?
Na ja, zum einen kannte sie
ihren Vater wohl gut genug, um zu wissen, daß er ihre Tat vertuschen und nicht
den Versuch machen würde, sie aufzuspüren. Aber sie
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