Wenn auch nur fuer einen Tag
Stuttgart einen Job als freier Mitarbeiter einer Wochenzeitung und schrieb sich parallel an der Uni ein, während Carlas Eltern mich zu sich nach Sankt Peter-Ording nahmen. Flo und ich telefonierten jeden Tag miteinander und als er zwanzig war und etwas Geld auf dem Konto hatte, mietete er eine größere Wohnung, holte mich zu sich und sorgte für mich.
»Du und ich, wir gehören zusammen«, höre ich ihn immer noch sagen. »Wir sind zwar nur zu zweit, aber zwei ergeben auch schon eine Familie, wenn auch eine sehr kleine.«
Er brachte mich durch die verhassten Matheprüfungen, lernte mit mir für den Führerschein, fuhr mit mir in den Urlaub, wenn genug Geld übrig war, er ließ sich die Jungs vorstellen, die mit mir ausgehen wollten, tröstete mich, wenn ich Liebeskummer hatte, er gab mir mein erstes Bier aus, als ich fünfzehn war und hielt mir – ohne auch nur ein vorwurfsvolles Wort – die Haare aus dem Gesicht, als ich ein Jahr später besoffen und kotzend über der Kloschüssel hing. Erst am nächsten Morgen hielt er mir eine kurze, aber prägnante Moralpredigt übers Zuviel- und Durcheinandertrinken von Alkohol, die mit den Sätzen endete: »Wahrscheinlich wird dir diese Scheiße noch öfter passieren, auch wenn du dir im Moment ganz bestimmt das genaue Gegenteil schwörst. Aber dann wird dich dein oller Bruder nicht mehr mit seinen schlauen Pseudosprüchen nerven, sondern du wirst dich ganz einfach selbst verfluchen.«
Wir haben alles zusammen durchgemacht. Nur in typischen Mädchenfragen wandte ich mich lieber an Flos damalige Freundin oder an Sabine. Selbst mein großer Bruder, dem ich ansonsten alles anvertraut hätte, wäre mit der Frage überfordert gewesen, wie man am besten einen Tampon dorthin bekommt, wo er hingehört.
Flo hatte recht – zwei können bereits eine kleine Familie sein. Aber ein Einzelner nicht. Er ist allein. Das zu wissen, ist das Schlimmste.
Ich krabble aus dem Bett, stelle mich unter die Dusche und lasse lauwarmes Wasser auf meinen Körper prasseln. Als ich mich abtrockne, geht es mir schon wieder etwas besser und von nebenan höre ich das wohlbekannte Geräusch unserer Kaffeemaschine.
»He, seit wann bist du denn schon wach? Ich dachte, du hast erst am Nachmittag Uni.« Eigentlich steht Carla freiwillig nie so früh auf, aber heute sitzt sie bereits um halb acht mit einer Tasse Kaffee, einem Marmeladentoast und der Zeitung an unserem Küchentisch. Sie trägt ein schwarzes ausgeleiertes T-Shirt und viel zu weite Sporthosen.
»Mhm«, knurrt sie. »Ich wollte eigentlich joggen gehen, aber draußen regnet es.«
»Du und Sport? Woher kommt denn diese plötzliche Motivation?«
»Alex liebt Wandern und will in den Semesterferien mit mir in die Alpen fahren«, erklärt Carla ohne besondere Begeisterung und beißt in ihren Toast.
»Ah ja!« Ich betrachte sie lächelnd. Irgendwie kann ich mir meine Cousine, die an der platten Nordseeküste aufgewachsen ist, das raue Meer und den Wind liebt, gar nicht in einer Gebirgsidylle vorstellen, erst recht nicht mit Wanderschuhen und Rucksack. Aber ich halte mich mit Kommentaren zurück. Liebe, heißt es immerhin, kann die höchsten Berge versetzen. Warum also nicht auch die Alpen?
»Verstehe, und deshalb willst du dich fit machen«, stelle ich fest. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. »Aber, Carla … Es regnet gar nicht.«
»Ach wirklich?«
»Ja, wirklich. Und den fast trockenen Pflastersteinen nach zu urteilen, kann es auch vorhin gerade mal ein paar Tropfen genieselt haben.«
»Pft, jetzt sei nicht so kleinlich«, schnauzt mich meine Cousine an und schmiert sich eine zweite Scheibe Toast. »Ich brauche eben fürs erste Mal die optimalen Voraussetzungen, sonst macht es mir keinen Spaß und das war’s dann mit meiner Sportkarriere.«
Ich gieße mir auch eine Tasse Kaffee ein, beuge mich zu Carla hinunter und gebe ihr einen dicken Schmatz auf die Wange. Auch wenn mir ihre besorgten Blicke und ständigen Fragen nach meiner Stimmung manchmal etwas zu viel werden, bin ich in diesem Moment unendlich froh, sie zu haben. Wirklich, wirklich froh! Vor allem nach dieser grauenvollen Nacht.
»He, womit habe ich das denn verdient?«, fragt meine Cousine erstaunt.
»Einfach so«, sage ich, »weil du ein verrücktes Original bist und ich dich schrecklich gernhabe, so, wie du bist.«
Carla lächelt verlegen und senkt ihren Blick. Mit Komplimenten kann sie schlecht umgehen.
»Hast du denn Lust, mit diesem Original in die City zu fahren, um
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