Wenn aus Verlangen Schicksal wird
jetzt konnte sie es nicht mehr leugnen: Zwischen ihrem Sohn und seinem Vater gab es ein ganz besonderes Band. Alex wollte, dass Aristedes ihn auf den Arm nahm.
Konnte es sein, dass Alex seinen Vater erkannt hatte? So wie Aristedes auf den ersten Blick gewusst hatte, dass der Kleine sein Kind war?
Schon am Tag zuvor war Selene nicht entgangen, dass der Anblick seines Sohnes Aristedes vollkommen aus der Fassung gebracht hatte. Und heute war es nicht anders. Sie spürte, dass er Angst hatte, dass ihn die Situation überforderte. Gott, sie hätte nie gedacht, dass Aristedes Sarantos so etwas wie Verzagtheit überhaupt empfinden konnte!
Mit einem geradezu träumerischen Ausdruck in den Augen sah er sie an, wartete ab, ob sie ihm Alex reichen würde oder nicht. „Ich habe noch nie ein Baby auf dem Arm gehabt“, sagte er unsicher.
„Nicht mal deine Geschwister, als sie noch klein waren?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nie.“
„Keine Sorge, er ist schon groß genug. Du musst nicht mal mehr sein Köpfchen halten“, versicherte sie ihm.
Als sie ihm Alex reichte, hatte sie das Gefühl, ihr Herz in seine Hände zu legen, sich Aristedes ganz anzuvertrauen.
Mit sichtlich zitternden Händen nahm er seinen Sohn auf den Arm und stand hilflos da.
„Wenn du ihn so nimmst, lehnt er sich einfach von selbst gegen deine Brust“, erklärte sie und half ihm, Alex in eine bequeme Position zu bringen.
Aristedes nickte und sah auf seinen Sohn hinunter. Erstaunt beobachtete er, wie der kleine Mann ihn neugierig musterte und mit seinen dicken Händchen forschend abtastete.
„Hallo, Alex“, sagte er leise, dann zuckte sein Blick zu Selene. „Soll ich mich selbst vorstellen, oder willst du das übernehmen?“
Selbst wenn ihr jemand eine Pistole an die Brust gehalten hätte, hätte sie nicht sprechen können, so gerührt war sie. Deswegen wies sie schweigend mit der Hand auf ihn.
Aristedes atmete tief durch, dann sagte er: „Na, dann lass mich mal erzählen. Alex, ich bin dein Vater.“
Für einen Augenblick befürchtete Selene, ihr würde gleich das Herz in der Brust zerspringen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie je hören würde, wie Aristedes diese Worte sagte. Und Alex … Es wirkte fast so, als hätte er genau verstanden, worum es ging, denn er lachte plötzlich fröhlich auf.
„Deine Mutter nennt mich Aristedes, manchmal auch Sarantos“, fuhr er fort. „Und wenn sie wirklich wütend auf mich ist, dann beides. Ich wünsche mir, dass sie mich irgendwann Aris nennt. Und für dich bin ich papa . Vielleicht üben wir heute mal, das zu sagen?“
„Bisher hat er noch gar nicht gesprochen“, warf Selene mit zitternder Stimme ein.
„Ist er dafür noch zu klein?“
Selene lachte leise auf. „Du hast wirklich keinen blassen Schimmer von Kindern, oder?“
Achselzuckend erwiderte er: „Bisher weiß ich nur, dass sie Angst einflößend, zerbrechlich und laut sind. Und dass sie, wenn sie erst mal da sind, plötzlich das ganze Leben bestimmen.“
Jetzt musste Selene wirklich lachen. „Stimmt alles, und wie!“ Dann warf sie Alex einen liebevollen Blick zu. „Aber sie sind auch unvergleichlich und jedes einzelne Opfer wert, das man für sie bringt.“
„Das sieht nicht jeder so.“
Als sie die plötzliche Düsternis in Aristedes’ Blick bemerkte, hielt sie inne. Sprach er gerade von sich selbst?
Doch ehe sie nachfragen konnte, fing Alex wieder an, herumzujammern.
Selene seufzte. „Er will sein Frühstück. Wenn er aufwacht, ist er immer hungrig.“
„Geht mir genauso.“
Blitzartig erinnerte sie sich wieder. Selene bekam eine Gänsehaut, als sie daran dachte, wie Aristedes nach dem Aufwachen gewesen war. Heißhungrig. Auf sie, auf Essen, dann wieder auf sie …
Mühsam unterdrückte sie den Impuls, sich an ihn zu drücken, seinen unstillbaren Hunger zu spüren, die tiefe Leidenschaft, die ihr bisher bei keinem anderen Mann begegnet war.
Aber er war nicht deswegen hier, und das war auch gut so.
Der kurze Anflug von Wahnsinn ging vorüber, und sie versuchte, ihm Alex wieder abzunehmen. Doch der Kleine schmiegte sich noch enger gegen die Brust seines Vaters, und auch Aristedes machte keine Anstalten, ihn loszulassen.
„Überläufer“, murmelte sie in einer Mischung aus Enttäuschung und Freude.
Als sie sich umwandte, um in die Küche zu gehen, hörte sie Aristedes’ tiefes, zufriedenes Lachen hinter sich.
Während sie ein Gläschen mit Obstbrei für Alex aus dem Küchenschrank holte, erklärte sie
Weitere Kostenlose Bücher