Wenn aus Verlangen Schicksal wird
das vorgestellt. Natürlich wider besseres Wissen.
Aber die Realität war ganz anders als ihre Tagträume. Lebendiger, überwältigender. Sie hatte das Gefühl, dass Aristedes ihre Privatsphäre verletzte, fühlte sich ausgeliefert, bedrängt. Und dabei hatte er sie noch nicht einmal berührt, sondern einfach nur ihre Wohnung betreten.
„Findest du wirklich, dass das zu viel verlangt ist?“ Sein Blick und der Klang seiner Stimme reichten aus, um sie bis in ihr Innerstes zu erschüttern. „Wenn ich meine Rechte als Vater geltend machen würde, könnte ich viel mehr haben als das“, fuhr er fort.
Seine Worte ließen ihre inneren Schutzmauern schlagartig wieder hochfahren. „Drohst du mir etwa?“
„Nein.“ Sein aufrichtiger Blick verriet ihr, dass er die Wahrheit sagte. „Ich weise dich nur darauf hin, dass ich ein Recht dazu habe, meinen Sohn zu sehen.“
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Selene hatte das Gefühl, als würde sich direkt vor ihr ein tiefer Abgrund auftun. Verzweifelt versuchte sie, sich die Panik, die in ihr aufstieg, nicht anmerken zu lassen. „Aber du hast keinen Anspruch darauf, mich zu sehen.“
Er nickte langsam. „Ich fordere ja auch gar nichts, weder was dich noch was Alex betrifft. Ich bitte dich einfach nur darum, mir ein Geschenk zu machen. Einen Tag. Bitte tu mir diesen Gefallen, Selene.“
Ihr Herzschlag setzte für einen kurzen Augenblick einfach aus. Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken, sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Zum ersten Mal überhaupt hatte er ihren Namen ausgesprochen.
Und auf Aristedes’ Lippen war es nicht mehr einfach nur ein Name, sondern ein Zauberwort.
Zu ihrer Erleichterung löste Aristedes seinen Blick von ihrem und sah über ihre Schulter hinweg. Leise sagte er: „Ich glaube, da ist jemand wach geworden.“
Verständnislos sah sie ihn an. Dann hörte sie es auch. Alex rief nach ihr, wie immer, wenn er gerade aufgewacht war.
Als Aristedes ihr wieder in die Augen sah, schien die Zeit für einen Moment stillzustehen. Denn zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, zeigte er einen Hauch von Verletzlichkeit. Seine Härte, seine Unnachgiebigkeit wichen einer unerwarteten Zerbrechlichkeit.
Konnte es sein, dass Aristedes Sarantos doch ein Herz besaß?
Plötzlich verstummten die Geräusche aus dem Kinderzimmer. Dann erklang ein jämmerliches Wimmern, das Selene durch Mark und Bein ging.
Panisch schoss sie herum und eilte ins Kinderzimmer. Sie war so besorgt, dass sie kaum wahrnahm, wie Aristedes die Wohnungstür schloss und ihr hastig folgte.
Im Kinderzimmer war es dunkel, aber Selene kannte den Weg zu Alex’ Bettchen blind.
„Ich bin ja schon da, mein Schatz“, flüsterte sie.
Währenddessen riss Aristedes mit einem Ruck die Vorhänge auf. Kühles Aprillicht drang durch die Fenster.
Als sie Alex in seinem Bett sitzen sah, atmete sie erleichtert auf. Offenbar hatte er mal wieder vergeblich versucht, auf eigene Faust über die Gitterstäbe zu klettern, und nur gebrüllt, weil er frustriert war.
Alex zwinkerte ins blendende Sonnenlicht, dann fokussierte er seine Mutter und schenkte ihr ein herzerweichendes Lächeln. Brabbelnd streckte er seine runden kleinen Ärmchen nach ihr aus.
Zärtlich nahm Selene ihn hoch und drückte seinen warmen, weichen Körper gegen ihre Brust. Als sie ihm einen Kuss auf die Wange gab, stieg ihr der saubere Babyduft in die Nase, den sie so liebte. Wie ein Kätzchen schmiegte er sein kleines Köpfchen gegen ihren Hals und gluckste zufrieden. Doch dann schien er zu bemerken, dass etwas anders war als sonst. Ruckartig blickte er auf und spähte mit großen Augen über ihre Schulter. Seine Lippen, die denen von Aristedes so ähnlich waren, verzogen sich zu einem winzigen, erstaunten „O“.
Selene wandte sich Aristedes zu, der die ganze Zeit über direkt hinter ihr gestanden hatte. Wie immer erstaunte es sie, wie klein und zart sie sich in seiner Gegenwart fühlte.
In diesem Moment schien er nur Augen für seinen Sohn zu haben.
Alex wand sich in Selenes Umarmung und streckte die Arme nach Aristedes aus.
Noch nie hatte Alex sich so eifrig auf einen Fremden gestürzt. Nicht einmal seine Onkel, die er seit seiner Geburt kannte, bekamen so viel Aufmerksamkeit von ihm. Sie durften ihn nur halten, wenn Selene ihn ihnen auf den Arm setzte und ihm versicherte, dass alles gut war.
Als Alex im Country Club zum ersten Mal auf Aristedes zugestürmt war, hatte sie noch an einen Zufall geglaubt. Aber
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