Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
Glas in der rechten Hand, die halb volle Bourbonflasche vor sich auf dem Tisch stehend. Weit und breit keine Leiche.
Er sah zu ihr herüber, sagte jedoch nichts.
Sie verharrte auf ihrer Position, setzte zur Frage nach dem Verbleib der Leiche an, brach jedoch wieder ab. Auch wenn sie die Antwort wissen wollte, so hatte sie doch keine Kraft für ein weiteres Gespräch um Tod und Vorlieben.
Nikolaj sah sie immer noch an, schien um Worte zu ringen, die ihm auf der Zunge lagen, von denen er aber anscheinend nicht wusste, welche – und ob – er sie sagen sollte oder konnte.
Nach ein paar Minuten stellte er das Glas klirrend auf dem Tisch ab, wies hoffnungsvoll mit der linken Hand auf den Platz neben sich und sagte in ihre Richtung gewandt: „Möchtest du dich etwas zu mir setzen?“
Ob sie sich zu ihm setzen wollte? Ja und nein. Ob sie sich zu ihm auf die Couch setzen wollte, auf der nicht lange zuvor die tote Frau gelegen hatte? Definitiv nein.
Sie ließ ihren Blick fixierend auf dem Sofa ruhen. Er verstand ihre wortlose Antwort offensichtlich, denn er erhob sich, kam auf sie zu, griff sanft ihre Hand und zog sie zurück ins Schlafzimmer.
Sie wollte sich empörend dagegen wehren und gleichzeitig wollte sie, dass er sich mit ihr ins Bett legte und sie ihm Arm hielt. Er erfüllte ihren letzteren Wunsch. Zusammen mit ihr ließ er sich unter die Bettdecke gleiten, bettete ihren Kopf auf seinem Oberkörper und hielt sie fest mit beiden Armen umschlungen. Nach einer Weile begann er, sanft über ihr Haar zu streichen. Es war Himmel und Hölle zugleich. Himmel, weil sie sich keinen schöneren Platz vorstellen konnte, als hier bei Nick. Hölle, weil ihr Kopf Bild um Bild in ihrem Kopf projizierte, wie sich die Szene zwischen Nick und der jungen Frau abgespielt haben könnte.
Sie kniff die Augen fest zusammen und konzentrierte sich mit allen Sinnen auf Nikolaj. Auf seine linke Hand, die schützend auf ihrem Rücken lag. Auf seine andere Hand, die zärtlich über ihren Kopf glitt. Auf die Wärme seines Körpers, die auf den ihren überging. Auf seinen Geruch, der ihr angenehm in die Nase kroch. Auf die Nähe, die zwischen ihnen bestand. Sowohl körperlich als auch emotional.
Schlagartig kehrte die Erinnerung an den Kuss zurück zu ihr – begleitet von dem prickelnden Gefühl unter Strom zu stehen. Ein Gefühl, das sich unmöglich ignorieren ließ.
In Anbetracht all der Dinge, die passiert waren und trotz all der Gedanken und Gefühle, die in ihr wirbelten, fühlte sie sich immer noch sicher und geborgen bei ihm. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie es nun weitergehen sollte, so gab es eine Sache, an der sie festhielt – festhalten wollte: dass das, was Nick und sie hatten, was sie miteinander teilten, nicht so einfach zerstört werden konnte. Nicht, solange sie beide daran festhielten und daran glaubten.
ZEHN
Ganz allmählich, Stück für Stück, wogte Gwen ins Wachbewusstsein zurück. Sie begann die Grenzen ihres Körpers und ihren Atem bewusst wahrzunehmen, begann das Gefühl für sich selbst, für ihr Ich, zurückzuerlangen.
Trotz der immer noch geschlossenen Augen stellte sich auch eine räumliche Wahrnehmung und Orientierung ein. Ihr Oberkörper hob und senkte sich in rhythmischer Bewegung. Doch es war nicht ihre Brust, der jene Ausdehnung zuzuschreiben war, sondern Nikolajs. Sie lag fast mit ihrem ganzen Körper auf ihm, einen Fuß über die Seinigen geschlungen. Ihr rechtes Ohr nahm seinen Herzschlag wahr. Sie presste es noch ein wenig näher heran und lauschte den regelmäßig pochenden Schlagimpulsen.
In wohliger Wärme von Decke und Nikolajs Händen daliegend, öffnete sie die Augen einen Spaltbreit, verfolgte das Heben und Senken seiner Brust, ehe sie das deutliche Gefühl überkam, er würde sie beobachten. Sie hob den Kopf und traf tatsächlich Nikolajs Blick.
„Bist du fündig geworden? Ich bin anatomisch und funktionell genauso gebaut, wie ein Mensch. Nicht nur, weil ich zur Hälfte einer bin. Du wirst keinen Sensaten finden, aus dessen Brust kein Echo zu hören ist oder der unter Wasser länger als fünf Minuten die Luft anhalten kann. Es gibt keine sichtbaren Merkmale dafür, dass wir sind, wer wir sind. Lediglich die unsichtbaren, fühlbaren und subtilen Merkmale, brandmarken uns als „anders“. Doch kaum ein Mensch nimmt diese Anzeichen bewusst wahr oder schenkt ihnen Beachtung – geschweige denn Vertrauen. Ein ungutes Gefühl oder eine wage Ahnung sind nun mal kein handfester
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