Wenn das der Führer wüßte
faul, begann unter dem Gejohl der Gäste die Wurst abzuhäuten und anzuknabbern.
Der Wein fing zu wirken an. Alles um ihn herum hatte auf einmal scharfe Ränder, wurde aber zugleich unwirklich, es schien sich ganz woanders abzuspielen, mit ihm als unbeteiligtem Zuschauer. Der „fremde Kopf“ war wieder da. Blitzschnelle Szenen wechselten ruckartig mit irrsinnig langsamen, aber auch diesen konnte man kaum folgen, weil sich die Zusammenhänge verwischten. Deutlich und zerdehnt, wie mit der Zeitlupe, sah er, was die zwei Nährmütter, die seinen Axel mit Polypenarmen umfangenhielten, mit dem Jungen trieben. Höllriegl wollte protestieren, aufstehen, konnte es aber nicht, wollte es auch gar nicht, es war ja alles scheißegal. Axel schien in fiebrig-aufgeregter Stimmung zu sein und ließ die Weiber willenlos gewähren – klar, daß die Damen ihn in anstößigster Weise abgriffen. Die eine, ihr Gesicht war durch ein wildes, starres, verzücktes Lächeln gezeichnet, versuchte ihr Opfer ganz an sich heranzuziehen, wobei sie dem Jungen in einemfort etwas zuflüsterte. Höllriegl bemerkte mit Ekel, daß sie in Axels Ohr züngelte.
Von Zeit zu Zeit wechselten ohne sein Dazutun die Schauplätze; Einzelheiten, Verknüpfungen konnte er nicht mehr in sich aufnehmen, das wäre zuviel gewesen. Plötzlich fand er alles heiter und sogar wunderschön, nur der Magen machte nicht mit. Man redete von allen Seiten auf ihn ein, zog ihn bald da-, bald dorthin, er saß an anderen Tischen oder auf ihnen – was für ein verdammt netter Ostmärker war er doch! Alle Ostmärker sind nett und gemütlich. Er grölte mit und schunkelte, es war gut, daß massenhaft Damen da waren, überall bekam man Weiberfleisch in den Griff, wo immer man sich hinsetzte. Er quasselte was von Ulla und der andern – wie hatte sie nur geheißen? –, duzte sich mit wildfremden Menschen, zum Beispiel mit einem Narvikhelden, der unentwegt vom Seegefecht bei Jan Mayen erzählte, fragte einen katholischen Geistlichen aus Bisanz, dem welschen Besançon (Visitenkarte: Monsignore Aloys Barmherzigkeit, Prälat), ob Gott eine Krankheit sei, oder was, zum Teufel, ist Gott eigentlich? – dabei klimperte er mit den Ehrenzeichen, die der Herr Prälat an der Soutanelle trug, sogar das Blockadebrecherabzeichen von anno Schnee war darunter. Dann erzählte ihm ein Funkberichter aus Bad Tölz dauernd säuische Witze, auch machte er die Blitzbekanntschaft eines alten Kämpfers von Pirmasens, dem er vor lauter Begeisterung die Hände küßte, weil er ja schon bei Pirmasens dabeigewesen war, erhabene Sache das, nur leider zugleich auch zum Speiben, denn ihm wurde nun wirklich kotzenübel. Der alte Kämpfer sagte, er sei noch immer Romantiker, doch suche er jetzt die blaue Blume mehr in der Weinkarte, was natürlich riesig witzig war. Und ein Professor von der Straßburger Schädeluniversität „Der treue Heinrich“ erklärte ihm etwas Schwieriges betreffs der Zirbeldrüse, die eigentlich ein verkümmertes Scheitelauge war für magisches Sehen, und eine noch riegelsame Frauenschaftsführerin aus Hörde mit sehr herausfordernden Hinterbacken, die sich schwups auf ihn gesetzt hatte, schilderte unter Kichern, sie sei auf der Flucht, es war auf dem Ruhrschnellweg gewesen, in einen scheußlichen Blechsalat geraten, ihr VW wäre dabei stark angeschlagen worden, aber der Süße da – ein verlebt aussehender, bleicher, knochiger Jüngling („Treffz mein Name, Detlev von Treffz“) – habe sie in seinem Wagen, der Borsche besaß einen Porsche, mit- und hernach an seine Brust genommen („Ich habe Ingold ein ganz neues Unterwäschegefühl verschafft, müssense wissen“), und nun wollte das traute Paar zu einer Base des Süßen, die in Heiligenbeil am Frischen Haff verheiratet war, die Ostseenähe sei vielleicht richtig für weitere Fluchtpläne. Auch gut. Und der Werbescheff einer rheinischen Sektkellerei, auch Wildpferdzüchter, graues Haar, Ehestandswinkel, nervig-markige Miene, grundloser Adlerblick, der ihn nach einem herzlichen Umtrunk auf die Toilette einlud („… sind wohl Alleinunterhalter oder gar normal …“), war anno zwoundvierzig in Auschwitz dabeigewesen, seine Augen leuchteten feuchtfröhlich, und da habe es nach jedem Rundlauf, den die „Flecks“ und andere schwerere Fälle mitmachen mußten, eine Extratour Zigaretten und Jamaika-Rum gegeben, so gut würden ihm Zigaretten und Rum nie mehr schmecken. Und die zarte Hellbraune mit dem geilen Kaulquappenmund und dem
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