Wenn das der Führer wüßte
Arbeiter aus der Gegend. Solche Leute hatte Höllriegl gern, und auch sie mochten ihn. Die saßen immer in seinen Sprechstunden herum, er verstand sie auf Anhieb.
„Kennen Sie die Eyckes?“ fragte Höllriegl harmlos, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen, dabei vibrierten seine Nerven. Der Coburger war nicht gerade ein Ausbund von Redseligkeit.
Der Mann kannte die beiden vom Sehen, hatte aber viel über Ulla gehört. Er hatte Frau von Eycke auch oft auf dem Bildschirm gesehen. Wegen ihrer Reiterkunststücke war sie überall eine Nummer. „… Dolles Weib!“ Höllriegl überlief es heiß, sein Herz pochte. Neu war für ihn, daß Ulla regelmäßig, wie es schien, für eine Fernsehserie posierte, die „Das deutsche Heim“ hieß. Höllriegl mußte sich (zu seiner Schande) gestehen, diese bekannte Sendung nie aufgedreht zu haben. Daß die Bernsteinhexe manchmal von Fernsehreportern befragt wurde, war ihm bekannt. Wieder bohrten Eifersucht und Hoffnungslosigkeit in ihm. Das ganze Reich sah Ulla, alle Männer begehrten sie!
Der Wagen kam nur im Schritt vorwärts. Immer wieder fluteten Trupps über den Weg, sie wollten nach Heydrich zu ihren Bussen oder weiter zurück bis Heldrungen, wo viele kaserniert waren. Und dann schleunigst nach Haus. „Habt ihr schon gehört?“ Aus den Gesprächsfetzen, die Höllriegl beim Anhalten aufschnappte, auch aus den spärlichen Bemerkungen seines Zufallsgefährten (der wußte bestimmt viel mehr, als er verriet), enthüllte sich ihm nach und nach das Bild einer nationalen Katastrophe von unabsehbarem Ausmaß.
Deutschland befand sich mitten in einem Bruderkrieg, wie es ihn in solch viehischer Brutalität und Präzision der Selbstvernichtung noch nie gegeben hatte. Seit Tagen, was die wenigsten wußten, seit jener geschichtlichen Reichsratssitzung, deren Zeuge Höllriegl in Berlin gewesen war, wurde in manchen Gauen bis aufs Messer gekämpft. Höllriegl erinnerte sich blitzartig an Anselmas Worte, sie hatten einen großen Eindruck auf ihn gemacht, daß die Dschungelzeit gekommen sei, die Zeit des Klappmessers – „und hinter uns die Wand“. Mann gegen Mann, Weib gegen Weib. Wie groß Haß und Hader im Innern sein mußten, ging daraus hervor, daß nicht einmal der rasch in ein entscheidendes Stadium tretende Konflikt mit der östlichen Weltmacht dem selbstmörderischen Treiben ein Ende machen und die Volksgenossen zur gemeinsamen Abwehr mobilmachen konnte. Das große Zerwürfnis, das mitten durch die Partei, mitten durch das Volk, ja selbst, wie manche sagten, mitten durch die Familien ging, hatte alle Merkmale einer apokalyptischen Katastrophe. Niemand war imstande, dieses Naturereignis in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, es in Worte zu fassen, geschweige denn, es zu überblicken oder gar aufzuhalten. Auch wäre niemand fähig gewesen, in dieser Schicksalsstunde das deutsche Volk zu einer schlagkräftigen Einheit zu verschmelzen. Nur eines wurde plötzlich vielen, auch Höllriegl, erschreckend klar; das jetzt offen zutage tretende Unheil hatte sich seit langem und im stillen vorbereitet, hatte sich auch da und dort angekündigt. Aber niemand hatte die Zeichen beachtet und gedeutet. Nun blieb nichts anderes übrig, als sich treibenzulassen.
Zu alldem kam nämlich die lähmende Erkenntnis, daß es trotz allen gegenteiligen Beteuerungen den neuen Männern nicht gelungen war, den äußeren Feind überfallsartig zu vernichten oder wenigstens so anzuschlagen und einzuschüchtern, daß er Kernwaffen nicht anwenden konnte. Das Gegenteil war geschehen. Was niemand für möglich gehalten hätte, trat ein: mitten im Altreich, auf deutschem Boden, waren Kernexplosionen von fürchterlichster Wirkung erfolgt – und zweifellos würde es weitere geben. Das Chaos, der Kampf aller gegen alle, war proklamiert, und dieses infernalische deutsche Chaos hatte sich wie ein Lauffeuer über den Erdkreis verbreitet: in den beiden Amerika, in Afrika, in gewissen Teilen Asiens, in den Polgebieten, sogar im japanischen Australien – überall, wo die Neue Ordnung ihre Bastionen errichtet hatte, war aus dem globalen Machtkampf der beiden Giganten eine Unzahl von Einzelaktionen entstanden, die in ihren verworrenen Auswirkungen gleichfalls von keinem mehr überschaut werden konnten. Höllriegl hatte das Gefühl, daß der Untermensch sich allerorten von seinen Ketten losgerissen hatte, so wie in der Göttersage Loki, Fenrewolf und die Midgardschlange. Es war einfach ein Kampf zwischen Licht und
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