Wenn das der Führer wüßte
im leeren Raum hängenblieben. Was war das nur, um Gottes willen? Höllriegl erinnerte sich Wort für Wort an sein Gespräch mit Schwerdtfeger. Dann der Marschbefehl, auch der war Wirklichkeit. Und der Brief Anselmas:
„Ich hoffe, Sie werden nicht immer aufs falsche Pferd setzen.“ Anselma konnte ja gesprächsweise von Schwerdtfeger gehört haben, daß er, Höllriegl, nach Berlin beordert würde. Der Romanfritze ging überall ein und aus, gewiß auch im Auswärtigen – und Anselma war eine reizvolle Frau. Hirnchristl ist sogleich im Bild gewesen; wer immer die Weisung gegeben hatte – diese mußte einen bestimmten Dienstweg gegangen sein, das war klar. Dann die Beichte des Juden! (Höllriegl hatte sie im Bericht nicht gänzlich verschwiegen, sondern sie andeutungsweise als das Produkt einer kranken Phantasie hingestellt.) Dort war er jedenfalls viel zu spät hingeschickt worden, ein Seelsorger hätte besser gepaßt. Am einfachsten, er steckte den Bericht in einen Umschlag und adressierte ihn an die betreffende Dienststelle von T 4 – aufs Geratewohl. Mochten sie damit tun, was sie wollten. Für ihn war der Auftrag erledigt. Oder sollte er Anselma ins Vertrauen ziehen? Den Gedanken verwarf Höllriegl ebenso schnell, wie er gekommen war.
Kritisch musterte er sich im Toilettespiegel – das blaue Auge prangte in unverminderter Schönheit. Ulla! Ulla! Die war verloren für immer, ehe er noch gewagt hatte, sie zu gewinnen. Das Ganze war Wahnsinn gewesen. Er mußte sich Ulla aus dem Herzen reißen, wenns auch noch so schmerzte. Anselma aber konnte er vielleicht –? Sie war Ullas Schwägerin, eine von Eycke. Es wäre eine süße Rache an Ulla, wenn er – wenn Anselma! Sein Herz pochte schneller, als er an Frau Geldens dachte, an ihren schlaffen Körper, ihre exotische Art …
Er vertrödelte die restliche Zeit. Irgendwie hatte er eine Scheu, auszugehen. Als sei er in seinen vier Wänden sicherer. Oder sollte er, entgegen der Einweisung, in ein anderes Hotel umziehen, mehrmals den Wohnort wechseln? Natürlich alles Trugschluß – wenn die einen holen wollten, so holten sie einen.
Das Auswärtige Amt war nach dem Wiederaufbau der Bombenruine ins alte Quartier zurückgekehrt: Wilhelmstraße 74-76. Höllriegl mußte durch eine dreifache Sperre von Wachen, überall wimmelte es von SS in eisgrauen Regenmänteln. Er ließ sich einen Passierschein geben, fragte nach der Kantine und ging quer über einen mit Überfallsautos und Panzerspähwagen angefüllten Hof. Die Truppe trug ihre Waffen auffällig zur Schau. In einem der Nebenräume des rauchigen, lärmenden Lokals sah er Anselma sitzen, kindlich und dunkel. Sie saß dort mit einer jungen Person, Kollegin vielleicht, die sich erhob, als Höllriegl näher kam.
Er grüßte zackig, was Anselma ein flüchtiges Lächeln entlockte. Sie schien heute kalt und ferngerückt, oder war es die ungemütliche, halbdienstliche Umgebung, die sie dazu zwang? Ohne Unterlaß strömten Leute herein oder gingen weg. Scharen von laut schwatzenden Mädchen, viele in Uniform, saßen da an langen Tischen, die Bedienung war geschäftsmäßig, es gab nur Kellnerinnen. Von Trauer war wenig zu merken, wenn man von den dunklen Kleidern absah. Auch die gestrige Reichsratssitzung schien keinen Eindruck hinterlassen zu haben. Das Leben der Eintagsfliegen ging seinen Gang.
Die tausendköpfige Gefolgschaft des Amtes mußte in vier halbstündigen Turnussen abgefertigt werden. Anselma sagte gleich, sie könne nicht viel länger bleiben. Höllriegl löste sich einen Speisebon, sie aßen schnell und einsilbig.
Die jüngsten Geschehnisse hatten ihn so durcheinandergebracht, daß er alle Vorsicht vergaß, ja dem Instinkt des In-Deckung-Gehens, der ihm zur zweiten Natur geworden war, zuwiderhandelte. Den Lärm der essenden und schwatzenden Umgebung empfand er als schützende Kulisse. Sollte man ihn doch beobachten? Es war alles egal. Anselmas Unnahbarkeit reizte ihn; wenn sie nicht hersah, verschlang er sie mit bewundernden Blicken. Er fand sie heute besonders hübsch, und ihre Hübschheit tat unbestimmt weh. Sie hatte bläuliche Schatten unter den Augen – was hatte sie gestern getrieben? Auch diese Frau würde er nicht erringen! Zwar – ihr Anruf hatte ihn glücklich gemacht, für eine Weile konnte er Ulla vergessen …
Als sie mit dem Essen fertig waren, berührte er wie unabsichtlich ihre Hand. Da sie sie nicht wegzog, barg er sie in der seinen. Die Wärme ihres Blutes erregte ihn. „Ich mag Sie
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