Wenn das der Führer wüßte
paar gutgelaunte Zeilen, ebenso an Kummernuß. Aber gut gelaunt war er eigentlich nicht. Dann setzte er sich in den Wagen und fuhr zur Tiergartenstraße vier. Es war noch immer trüb, nur regnete es kaum. Der Verkehr schien weniger dicht zu sein. Kalter Wind hatte sich aufgemacht, der wohltat. Berliner Wetter, wie er es mochte.
Dem Torwart von T 4 sagte er bloß, er wolle zum Diensthabenden der Reichsschule für Strahlenschutz. Noch auf der Stiege, als er an den erstarrten Wachen vorbeikam, war er ganz sicher, Hirnchristl anzutreffen. Er ließ sich melden und mußte eine Weile warten. Endlich wurde er vorgelassen. An dem Schreibtisch mit den drei Telefonen amtierte ein junger, resolut wirkender Mensch in Zivil. Der leugnete strikt und schneidig, einen Obersturmführer Hirn-kristell (wie die Leute den Namen komisch aussprachen!) zu kennen. „Ich tue hier seit gestern Dienst – mein Amtsvorgänger hieß Pribilla.“
Bei so absichtlicher Sturheit hätte es wenig Sinn gehabt, in den Mann zu dringen. Die Tippmamsell war noch die von gestern, oder war es eine andere? Sie schauten alle gleich aus. Die Frau sah mit stumpfem Gesichtsausdruck an ihm vorbei, so daß er die Lust verlor, sie anzusprechen. Er behielt den Bericht in der Tasche, murmelte eine Entschuldigung (was er sich ersparen hätte können, denn niemand beachtete ihn mehr) und ließ den Passierschein abstempeln. Er ging ohne Gruß, kam sich wie verloren vor. Und wieder hatte er das Gefühl unbestimmten Bedrohtseins, diesmal besonders stark. Er beschleunigte seine Schritte. Den Zettel mit Gundlfingers Adresse trug er noch bei sich. Der wenigstens war greifbar.
Im Flur der Pension begegnete ihm Frau Zweenemann, sie hatte entzündete Augen und schlug den Blick vor ihm nieder. Höllriegl ermunterte sie in seiner burschikosen Art zum Reden. Ihr Bruder, erzählte sie stockend und im Flüsterton, sei seit gestern mittag abgängig. Ein Mann, pünktlich wie die Uhr. Und so akkurat! (Sie führte, seit dem Tod ihres Mannes, mit ihm die Pension.) Der Bruder hatte die Absicht gehabt, in die nahe gelegene Filiale der Reichsbank zu gehen, um Geld abzuheben – seither fehlte von ihm jede Spur. In der Bank hatte man ihn angeblich nicht gesehen. „Die Leute dort benahmen sich so konfus und in ihren Aussagen so widersprechend, daß ich stracks zur Polizei lief – Geld war nicht abgehoben worden. Auf der Wachstube nahm man meine Abgängigkeitsanzeige mit Indolenz entgegen, kaum daß man mich richtig ausfragte. – Sie haben Albert geholt, sie haben Albert geholt!“ Vor Angst und Aufregung hatte die Witwe ein nasses Gesicht, ihre Hände zitterten heftig, und Höllriegl bemerkte, wie sie die Fingernägel immer wieder in die Handflächen grub.
„Seit Sonnabend verschwinden Menschen stündlich“, flüsterte sie, „man holt sie von der Arbeit, sie kommen einfach nicht wieder. Es sind meist kleine Leute, die verschwinden, Arbeiter, kleine Angestellte … Der Werwolf ist an der Arbeit –.“ Sie sah sich nach allen Seiten um, obwohl ihre Stimme kaum hörbar war. „Armer, armer Albert! Ich seh ihn nimmer!“ Jetzt brach sie wirklich in Tränen aus.
Menschen verschwanden spurlos! Und noch etwas anderes beunruhigte ihn, etwas, das mit den Ereignissen nichts zu tun hatte. Schon im Sommer war im ganzen Reichsgebiet und überall in Europa das Nutz- und Trinkwasser knapp gewesen. Als wäre plötzlich alles Wasser versiegt. Seit langem hatte es keinen so glühheißen Sommer mehr gegeben, und im Herbst sickerten sogar Nachrichten über katastrophale Mißernten durch. Die Behörden hatten strengstes Wassersparen angeordnet, und diese Maßnahmen wurden auch nicht gemildert, als Mitte Oktober ausgiebige Regenfälle einsetzten. In der Pension fand Höllriegl Aufschriften mit dem Parteibefehl „Volksgenossen! Spart deutsches Wasser!“ Und als er nach der Begegnung mit Frau Zweenemann in sein Zimmer kam, sah er über dem Waschbecken ein Täfelchen hängen, auf dem zu lesen stand, daß bis auf Widerruf zwischen 10 und 16 Uhr und zwischen 20 und 4 Uhr früh das Wasser abgesperrt werden würde. Er fand die Schüssel halb mit Wasser gefüllt, es hatte einen schwach lehmigen Stich, und auf dem Bord standen zwei Flaschen Mineralwasser.
Nochmals las er seinen Bericht genau durch. Für wen hatte er ihn geschrieben? Diese Frage, immer wieder auftauchend, erschütterte sein Vertrauen. Wo war die Ordnung, wo die heile Welt? Versagte die Führung? Befehle wurden gegeben, die irgendwo in der Luft,
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