Wenn das der Führer wüßte
wie Höllriegl es bei ariosophischen Andachtsübungen gesehen hatte, die er zeitweilig zu Schulungszwecken besuchte.
Aber alle diese Dinge, die Einzelbilder der Lauschenden, nahm er erst nach und nach in sich auf. Sein Augenmerk galt vielmehr dem Redner oder Prediger, der oben an der Balustrade stand, die Hände auf sie gestützt, ein Bild professoraler Ruhe. Es war ein untersetzter, stämmiger Mann, vielleicht an die siebzig, mit hoher Stirn, fleischigem Gesicht und schütterem, ergrautem Haar. Starke Nase, dichter, englisch gestutzter Schnurrbart, rosa Backen (wie gelackt!), listig funkelnde Äuglein, die unter fetten Lidern raset und mit kühlem, abstraktem Ausdruck über die Köpfe der Zuhörer wanderten. Der Mund teigig wie der eines alten Mimen. Gundlfinger trug eine eigentümlich geformte Brille, vielleicht „Hörbrille“. Dieser berühmte Denker hätte ganz gut Sparkassenbeamter in gehobener Stellung, Filialleiter oder so, aus der Provinz sein können, sein Äußeres war durchschnittlich, sogar unscheinbar. Geduld, Milde, Güte, so etwas wie Gemüt gingen von Gundlfinger aus – oder täuschte man sich da nur? Leise tropften seine Worte (schwäbelnder Tonfall) in die Stille; diese runden, blanken, griffigen Wörter hatten etwas allzu Rundes, Blankes und Griffiges, wie Münzen, wie Kleingeld.
Als Höllriegl eine Viertelstunde lang dem Vortrag zugehört hatte, von dem er kaum drei Sätze verstand, beschlich ihn der Verdacht, ein Stoffverkäufer in einem Warenhaus messe behend, zungenfertig, dienstbeflissen seine Meterware ab, drehe sie mit gefälligen Redeblumen der Kundschaft an. Obwohl er, wie gesagt, nichts Greifbares mitbekam – das Thema war ihm zu hoch –, verstärkte sich von Minute zu Minute der Eindruck, daß hier alles, jedes Wort, jeder Satz, vorgefertigt, gestanzt, sorgfältig überlegt und einstudiert sei (einstudiert wie auch Gundlfingers Durchschnittlichkeit) und nun mit der Präzision einer Denkmaschine, die entsprechend programmiert worden war, aus dem Mund herausschnurre.
Befremdend, weil nicht landesüblich, war Gundlfingers Kleidung. Sie erinnerte an die Tracht der Älpler, war andeutungsweise ländlich, schwarz, mit moosgrünen Aufschlägen und Verzierungen; die Jacke aus Loden hatte Hirschhornknöpfe. Ein dunkles, gesticktes Samtkäppchen, wie es einst in Wien das Symbol der Hausbesitzer gewesen war, lag auf der Brüstung. Wahrscheinlich trug Gundlfinger – doch das konnte man eben nur ahnen – dickwollene, gestopfte Socken und statt der Schuhe Schlapfen an den Füßen.
Durch einen plötzlichen Einwurf wurde Höllriegls Aufmerksamkeit wieder auf den Vortrag gelenkt. Eine der kurzen Pausen, die der Philosoph in seine kunstvoll verschachtelten Sätze einbaute, nicht weil er kurzatmig war, sondern um die Schönheit bestimmter Denkornamente nachschimmern zu lassen, hatte eine der Frauen in der vordersten Reihe dazu benützt, um eine Frage zu stellen – eine Frage, die aufhorchen ließ. Die Frau hatte mit gesenktem Kopf gesprochen.
„Ist Gott eine Krankheit?“
„… Gewiß, liebe Volksgenossin, gewiß.“ Gundlfingers Miene verriet nicht die geringste Verlegenheit. „Gott ist eine Krankheit. Jedoch eine Krankheit, die so vertrackt und so vieldeutig ist, auch so weitschichtig und tiefreichend, daß wir sie als Inbegriff, also in ihrer Hülle und Fülle, als Ganzheit gar nicht zu erfassen imstande sind. Wenn Gott eine Krankheit ist, dann ist jede Art von Religion das dazupassende, wenn auch unvollkommene Heilverfahren – nicht eine Ursachen-, sondern eine Merkmalheilbehandlung, denn die Ursache, die Ur-Sache, die Wurzel der Erkrankung, ihr Um und Auf, kennen wir nicht, sie liegt in jedem Einzelfall woanders, und wir werden sie daher kaum jemals finden. Versteht man solcherart Gott als unheilbare Krankheit, als schlechthinniges Übel, als Krebsgeschwulst des menschlichen Denkens, dann ist die Vokabel Gott eine Dachbezeichnung für alle jene Leiden, die von IHM ausstrahlen und sich in unserer Körper-Seele bis ins feinste verästeln. Gott kann in jeder Form von Heimsuchung auftreten, als multiple Sklerose ebenso wie als nervöser Durchfall. Denken Sie bitte vergleichsweise an die vegetative Dystonie – was ist das anders als ein Sammelname, ein Schwammwort, für viele ganz verschiedenartige Unstimmigkeiten im Zusammenspiel des vegetativen Gefüges? Solche Unstimmigkeiten reichen von einfacher Unrast, Unruhe, Unlust bis zu schwersten Bedrückungen und ernsthaften Organausfällen,
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