Wenn das Dunkle erwacht (German Edition)
Gegenseitigkeit beruht, wäre es gelogen“, bemerkte er mit kehligem Kichern. „Aber wie du gesagt hast, auf mich wartet mein eigener Merrick, von mir aus kannst du sie haben.“ Das war natürlich gelogen, aber sosehr er es auch genoss, seinen Mitstreiter zu verspotten, zu weit gehen wollte er dabei nicht. Jedenfalls noch nicht, da sie sich ja noch mit dem Watchman auseinandersetzen mussten.
Und Gregory wusste genau, wie empfindlich Royce war, was das Leben dieser kleinen Merrick-Schlampe betraf.
Nach der alten Legende stellte die Natur immer ein Gleichgewicht her. Jedes Mal wenn ein Casus aus dem Meridian entschlüpfte, erwachte ein Merrick zu neuem Leben. Um unter den geflohenen Casus die Ordnung aufrechtzuerhalten, war beschlossen worden, dass jeder Casus ein exklusives Recht auf jenen Merrick haben sollte, der durch seine Rückkehr in diese Welt erwacht war. Denn nur ein vollständig erwachter Merrick stellte für ihre Art die ultimative Nahrung dar. Dies war eine lebenswichtige Regel, denn nur ein solcher Merrick, den einer von ihnen getötet hatte, verschaffte den Casus die Kraft, einen weiteren aus dem Meridian entkommen zu lassen und über den tiefen Abgrund zwischen beiden Welten zu bringen. Da der eigentliche Antrieb hinter all ihren Taten das Begehren war, so schnell wie möglich viele ihrer Artgenossen hierher zu bringen, um wieder wie früher die Welt zu beherrschen, wurden erwachte Merricks zu einem begehrten Gut.
Gregory allerdings scherte sich einen Dreck um all das.
Ihm ging es nur um seine eigene Macht, nur deshalb würde er irgendwann seinen eigenen Merrick finden und töten. Aber zuerst nahm er sich diese Buchanans vor.
„Du weißt doch genau“, säuselte Royce, „dass du deinen eigenen Merrick niemals finden wirst, wenn du dich nicht ausschließlich darauf konzentrierst.“
„Ach, den finde ich schon“, murmelte er und kratzte genüsslich seine blutbedeckte Brust. Der verklemmte Spinner hatte nicht einmal bemerkt, dass Gregory von lauter Blut besudelt war. „Aber im Augenblick ist Saige Buchanan unser Problem. Das mit vorhin kannst du mir nicht vorwerfen. Wenn du dabei gewesen wärst, hättest du auch nicht widerstehen können.“
„Bis jetzt habe ich widerstanden, oder etwa nicht?“Die beiden Männer gingen zu der Hütte. Obwohl das Mondlicht den Anblick etwas abmilderte, schien es trotzdem ein Wunder zu sein, dass das Gebäude noch stand. Das traurige Dach schien auf der rechten Seite abzurutschen, als wolle es in das trübe Wasser des Flusses gleiten.
„Wenigstens komme ich nicht mit leeren Händen“, bemerkte Gregory mit beiläufiger Gleichgültigkeit.
„Als ob ich das überhaupt wissen will.“ Royce öffnete seufzend die Tür.
In dem baufälligen Gebäude gab es nur ein einziges verdrecktes Waschbecken, vor das Gregory jetzt trat und Wasser einlaufen ließ. In der schmutzigen Fensterscheibe erblickte er sein eigenes Spiegelbild vor dem Mond und dem düsteren Wasser, das wie eine Schlange durch den Dschungel glitt. „Auf dem Rückweg habe ich ihrem kleinen Assistenten einen Besuch abgestattet.“
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Royce schon wieder die Fäuste ballte, aber der Idiot würde nicht den Mut aufbringen, sich auf einen Kampf einzulassen, so viel stand fest. Gregory strotzte durch seine neuesten Morde geradezu vor Kraft, das war unübersehbar. „Du verfluchter Idiot“, brachte Royce durch zusammengebissene Zähne hervor. „Warum zum Teufel hast du das getan?“
„Weil ich mehr über die Dark Marker wissen wollte“, erklärte er voller Ruhe und spritzte sich Wasser ins Gesicht und über seine Brust. Nachdem Saige ihm entwischt war, wollte er zuschlagen, wo es wehtat. Und das war ihm gelungen.
„Und?“ Royce kam einen Schritt näher.
„Der Junge behauptete, er wüsste nicht, wo sie das Kreuz aufbewahrt, aber er meinte, sie hätte in dieser Bar irgendwelche Papiere hinterlegt.“
Beim Umdrehen fing er plötzlich einen interessierten Blick von Royce auf. „Wenn Calder richtig damit liegt, dass sie die Karten in ihrem Besitz hat – das könnten sie sein.“
Man hatte ihnen gesagt, dass Saige Buchanan möglicherweise irgendwo mehrere Landkarten aufgetrieben hatte, auf denen die Verstecke der Dark Marker verzeichnet waren. Laut Calder waren diese Karten ein streng gehütetes Geheimnis, von dem nicht einmal die Watchmen wüssten, und von unschätzbarem Wert für jeden, der sie in seinen Besitz brachte. Deshalb wollte er sie haben –
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