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Wenn das Glück dich erwählt

Wenn das Glück dich erwählt

Titel: Wenn das Glück dich erwählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Lael Miller
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in der kalten Luft aufstieg. Das Glas hinter den Fensterläden musste eisbedeckt sein, so kalt war es in diesem Raum.
    Er zog sich bis auf seine langen Unterhosen aus, kroch fröstelnd unter den Stapel klammer Decken und Felle auf der schmalen Liege und dachte, dass Evangeline im Nebenraum sein Zähneklappern hören musste. Er versuchte wirklich, sich nicht vorzustellen, wie sie sich entkleidete, wie sie ihr Nachthemd anzog und ihr aufgestecktes Haar löste, aber er sah dieses wundervolle Ritual so deutlich vor sich, als hätte er sie durchs Schlüsselloch beobachtet.
    Hinter der dünnen, schrägen Wand des Anbaus heulte der Wind und trug den klagenden Ruf eines Kojoten durch die stille Nacht. Der Nachhall dieses einsamen Geräuschs wollte nicht mehr aus Scullys Bewusstsein weichen, und obwohl er todmüde war, fand er lange keinen Schlaf.
     
    Evangeline wartete eine halbe Stunde, bis sie ganz sicher war, dass Scully nicht mehr aufstehen würde, und dann erst öffnete sie ihre Reisetruhe und nahm ein schlichtes weißes Flanellnachthemd heraus. Der Stoff war kalt, obwohl Scully das Gepäck sofort nach ihrer Ankunft ins Haus gebracht hatte, und sie fröstelte schon bei der bloßen Vorstellung, diesen kalten Stoff an ihrer nackten Haut zu haben. Schließlich trat sie an den Kamin und hielt das
    Nachthemd vor die Flammen, in der Hoffnung, dass das Feuer den Stoff ein bisschen wärmen würde. Sie hätte vorgezogen, mit allem, was sie anhatte, ins Bett zu gehen, aber sie hatte nicht vor, ihre Maßstäbe zu senken, nur weil sie an einen solch abgelegenen Ort gekommen war. Schließlich war es ihre Pflicht, ihrer Tochter mit gutem Beispiel voranzugehen.
    Aber die Nacht war bitterkalt, so dass sie sich zum guten Schluss für einen Kompromiss entschied und nur das Kleid und ihre Unterröcke ablegte und ihr Hemd und ihre langen Beinkleider unter dem Nachthemd anbehielt. Rasch kroch sie unter die dicken Decken und begann zu zittern vor Kälte, als sie zwischen die eisigen Laken glitt.
    Abigail bewegte sich neben ihr und lächelte ein wenig wie in einem wunderschönen Traum, was Evangeline wieder etwas ermutigte. Sie sprach ein stummes Gebet und schloss die Augen, um auf den Schlaf zu warten, aber obwohl sie ihn herbeisehnte, konnte sie an nichts anderes als an Scully denken.
    Nun ja, wahrscheinlich war es ganz natürlich, dass sie an ihn dachte; er war schließlich ein gut aussehender Mann und so völlig anders als alle anderen Männer, die sie je gekannt hatte. Nicht, dass sie etwa sehr viele gekannt hätte in ihrem Leben - sie erinnerte sich nicht einmal an ihren Vater, da er gestorben war, als sie noch ein kleines Kind war, kurz bevor auch ihre Mutter starb. Sie war in einem Waisenhaus aufgewachsen, im St. Theresas in Philadelphia, wo Jungen und Mädchen streng getrennt gewesen waren. Dann, nach ihrem sechzehnten Geburtstag, war Clara Keating, Charles' warmherzige Frau, an einem sonnigen Frühlingstag gekommen, um sie abzuholen, hatte sie aus einer ganzen Gruppe hoffnungsvoller Kandidaten ausgesucht und mit heimgenommen, damit sie ihr im Haus und in ihrem Garten half.
    Dort hatte sie Mott kennen gelernt, der weder die gutmütige Natur seiner Mutter noch den ruhigen, freundlichen Charakter seines Vaters geerbt hatte. Tatsächlich hatte Evangeline damals sogar gedacht, dass sie, falls das einzige Kind der Keatings ein Beispiel dafür darstellte, wie Männer waren, besser in ein Kloster eintreten sollte.
    Im nächsten Jahr, als Evangeline siebzehn wurde, brach der Krieg aus, aber eine Zeit lang war er ihr fast unwirklich erschienen, wie eine Serie weit entfernter Vorfälle, eine schaurige Geschichte ohne Ende, etwas, worüber Charles in den Zeitungen las und weshalb Clara sonntags in der Kirche und auch während der Woche betete. Dann waren die ersten jungen Männer fortmarschiert, voller Stolz auf ihre neuen Uniformen mit den glänzenden Bronzeknöpfen, ihre festen Stiefel und die Bajonette, die die Regierung ihnen gab. Sie waren sich ihres Sieges so sicher gewesen, diese ersten jungen Freiwilligen, und überzeugt, dass sie den Krieg beenden würden, noch bevor der Sommer endete.
    Es tat Evangeline noch immer weh, an sie zurückzudenken. Aber noch viel schmerzlicher war die Erinnerung an die Männer, die dann irgendwann zurückkehrten - im besten Falle gramvoll und bekümmert, im schlimmsten Fall in einem schlichten Holzsarg. Jene, auf die weder das eine noch das andere zutraf, waren blind oder taub, hatten Beine oder Arme

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