Wenn das Glück dich erwählt
hole nur rasch meine Schere aus dem Nähzeug.«
Er schaute sie verwundert an und fragte sich vermutlich, wieso sie überhaupt bereit war, sich von Abigails Seite zu entfernen, wo sie doch den ganzen Abend nicht gewagt hatte, auch nur den Blick von ihrer Tochter abzuwenden. Aber er war klug genug, sie nicht danach zu fragen. Schweigend zog er sich einen Stuhl an den Kamin und setzte sich.
Evangeline nahm ihre Schere aus dem Nähkästchen und ihren Kamm aus der Reisetruhe, bevor sie noch einmal in die Speisekammer ging, um eine Schaufel und einen Besen zu holen. Dann legte sie Scully ein Handtuch um die Schultern und begann sein Haar zu kämmen.
Und erst dann, als sie so dicht bei ihm stand und ihn berührte, begann sie einzusehen, dass sie vielleicht einen Fehler begangen hatte. Selbst mit dem Stuhl als Barriere zwischen ihnen konnte sie von ihrer Taille abwärts die Wärme seines Rückens spüren, und das ließ sie alles andere als gefühllos. Auch er schien ungewöhnlich angespannt; seine breiten Schultern waren steif und sein Nacken starr.
Sie stieß ein leises, nervöses Lachen aus, während sie den Kamm in einer und die Schere in der anderen Hand hielt. »Entspann dich, Scully. Ich werde dir schon nicht die Ohren abschneiden.«
Er holte tief Atem und ließ ihn langsam wieder aus. »Woher soll ich wissen, dass du das kannst?«, fragte er schließlich, in einem nur allzu offensichtlichen Versuch, die Spannung zwischen ihnen zu lindern.
»Du wirst das Risiko schon eingehen müssen«, antwortete sie. Sie konnte Abigails schweres Atmen durch das Zimmer hören; tatsächlich atmete sie selbst nicht sehr viel anders, und sie war ziemlich sicher, dass ihre Herzen ebenfalls im gleichen Rhythmus schlugen. Sie war sich ihrer Tochter so bewusst, als wenn sie neben ihr gelegen und ihr Kind im Arm gehalten hätte. Es ist fast so, als wären wir durch ein unsichtbares Band verbunden, dachte Evangeline, und der Gedanke gab ihr Trost.
Scully stieß einen Seufzer aus. »Also gut«, sagte er im Tonfall eines Mannes, der aufs Schafott geführt wurde. »Fang an.«
Sie waren eigentlich sogar beruhigend, diese rhythmischen, präzisen Bewegungen der Schere und des Kammes.
Immer mehr Strähnen von Scullys Haar fielen auf den Boden, wo sie im Feuerschein wie Münzen schimmerten; es war sehr dichtes Haar, das dennoch ungewöhnlich weich war, wie sehr gutes Seidengarn beinahe. Evangeline zwang sich, die Perspektive zu bewahren, so gut sie konnte, indem sie sich vorstellte, es sei Big Johns Haar, mit dem sie sich befasste - vorausgesetzt natürlich, dass er überhaupt noch Haare auf dem Kopf hatte. Die Fotografie, die er ihr geschickt hatte, konnte schließlich auch schon ziemlich alt sein.
Als die Friseursitzung beendet war, schüttelte Evangeline das Handtuch im Kamin aus und fegte dann den Boden. Scully war bereits aufgestanden und betrachtete sich in Big Johns zersprungenem Rasierspiegel, der an der Wand über dem Waschtisch hing.
Evangeline lächelte. »Du bist ja richtig eitel, Scully!«, beschuldigte sie ihn. »Das hätte ich wirklich nie von dir gedacht.«
Er drehte sich zu ihr um und grinste. »Wie wäre es jetzt mit einer Partie Schach?«
Sie saßen stundenlang am Tisch, das Schachbrett zwischen sich, und Evangeline wurde fast ebenso warm von Scullys Nähe wie von dem prasselnden Feuer neben ihnen im Kamin. Scully gewann mehr Partien als sie, aber sie hielt sich trotzdem ziemlich gut, und als beide übereinstimmten, dass es Zeit zum Schlafengehen war, war sie schon viel ruhiger und entspannter. Es kam ihr fast so vor, als ob er sie in die Arme genommen und getröstet hätte, ihr übers Haar gestrichen und versprochen hätte, es würde alles wieder gut werden - als hätte er all das getan, was sie sich ihr Leben lang ersehnt und weder von Charles noch von irgendeinem anderen Mann bekommen hatte. Dabei hatte Scully in Wirklichkeit nicht mehr getan, als sie sein Haar zurechtstutzen zu lassen und ein paar Runden Schach mit ihr zu spielen.
Komisch, dachte sie, während sie sich in der Dunkelheit entkleidete und im Nebenzimmer Scullys leise Schritte hörte, dass solch simple Dinge sich wie Liehe anfühlen können.
Abigails Fieber stieg in der Nacht wieder, so hoch, dass Evangeline die Hitze in ihrem eigenen Körper spürte. Sie sprang erschrocken auf und griff in der Finsternis nach einer Lampe und Streichhölzern, während sie schon laut nach Scully rief.
Er kam sofort, barfuß und mit nichts anderem bekleidet als
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